Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
seine ehrgeizigen Ziele. Es gab nur sie: diese junge Frau mit ihren Geschichten über Jesus, den vorletzten Propheten, der in ihren Erzählungen nicht einmal der Gott war, für den ihn die Christen hielten.
In seinem Fieberwahn hatte er sich vor allem an die letzte Geschichte erinnert, die er gehört hatte, die Geschichte über einen Jesus, der als Junge entführt und gedemütigt wurde, der es aber geschafft hatte, sich zu befreien und ein besseres Leben für sich aufzubauen – durch Gleichmut. In seinem Unterbewusstsein und mit dem Verstand, der sich mittlerweile fast vollkommen von den Leiden des Körpers befreit hatte, konnte sich Osman glasklar an Gua Lis Erzählung über die Rebellion des jungen Jesu gegen den mächtigen Brahmanen erinnern und die Entscheidung Sayeds, alles aufzugeben, um sich Jesus zu widmen. Tief in seinem Schmerz, den er fast nicht mehr spürte, waren ihm die Passagen in den Sinn gekommen, in denen Īsā gegen die Nomaden kämpfte, die ihn berauben wollten. Nachdem er ihre Lebensumstände und ihr Leid kennengelernt hatte, mussten Sayed und er zugeben, dass sie im Gegensatz zu den Dieben mehr besaßen und dass es daher nur gerecht wäre, ihren Besitz mit den Nomaden zu teilen, damit alle in Frieden leben konnten. Zuerst hatte Sayed nicht verstanden: Er hatte alles für Īsā aufgegeben und wollte ihm durch den Verkauf all seines Besitzes eine sichere Zukunft ermöglichen.
»Du hast mir die Freiheit gegeben, die das Leben ist. Du bist wie ein Vater zu mir«, hatte ihm Īsā geantwortet. »Du hast es mir ermöglicht, mein Wissen zu vertiefen und meinen Verstand zu schärfen. Das aber ist meine Zukunft. Nun kann ich den Sinn von Gut und Böse besser verstehen, den Sinn von gerecht und innerem Gleichgewicht, die Leidenschaft, das Loslassen und das Schenken; und ich begreife die Liebe, Sayed. Sie ist die Möglichkeit zu geben und zu empfangen. Und nur durch die Liebe kann der Mensch glücklich sein, auch der Unwissende.« Sayed hatte die Arme erhoben und die Nomaden zu seinem Karren gewunken und jedem das gegeben, was er brauchte.
Ach, der Jesus von Gua Li, der seinem Gegenüber den Weg des Lebens wies, ohne jede Anmaßung, demütig und sich selbst treu! So hatte er den Gott der Christen nicht kennengelernt. Jesus schien sich an den gleichen Prinzipien zu orientieren wie der Prophet Allah, gepriesen sei Sein Name. Doch es waren nicht die gleichen Prinzipien, die der Wesir und die Große Mutter verfolgten: Sie kannten nur den Tod. Jesus aber brauchte keine Waffen und keine Soldaten – und selbst ein Krüppel wie er konnte an seiner Seite stehen, auf Augenhöhe. Andererseits: Wer sagte, dass die Geschichte von Jesus nicht ein Trug dieser Frau war, die Schönheit mit Herz und Wissen mit Sanftmut vereinte …
Nein, das war unmöglich, denn wer Lug und Trug kennt, weiß Aufrichtigkeit in Worten und Blicken zu erkennen. Und Osman lächelte den Tod an. Er lächelte die gefälschten Empfehlungsschreiben an, die ihn als Gesandten auswiesen, und er lächelte der Pest zu, die ihn verschont hatte. Und schließlich lächelte er dem Leben zu, das nicht mehr dasselbe sein würde wie zuvor – denn das Geld reichte nur noch für wenige Tage. Er würde nie wieder heimkehren, weder zur Großen Wächterin noch zum Sultan. Seine Verkrüppelung hatte ihn die verschlungenen Wege des Herzens entdecken lassen – während er früher der Überzeugung gewesen war, dass der Weg über das Herz ihn am Leben hindere! Nun hatte er nur noch ein Ziel: Gua Li finden, ihr die Wahrheit zu erzählen und für alle Zeiten ihren Geschichten zu lauschen. Auf dem Schiff hatte er ein Versprechen gegeben – und er würde es halten.
31
Rom, 29. September 1497
Das prächtige purpurfarbene Gewand machte keinerlei Eindruck auf die Wachen am Eingang des Palazzos. Diese Männer waren es gewöhnt, dass Abgesandte, Kardinäle, Bittsteller, Meuchelmörder und sonstiges Gesindel an die Pforte von Fürst Colonna klopften. Der Fürst wusste sie alle gleich zu behandeln – wenn auch mit unterschiedlichem Respekt. Breitbeinig standen die Wachen da und kreuzten ihre Hellebarden, während draußen vor dem Tor heimatlose Halunken um den vermeintlichen Kardinal und seine beiden Begleiter herumschlichen und auf den rechten Moment für einen Überfall warteten.
Giovanni war ein Schwächling und hätte nie im Leben daran gedacht, sich einem Gegner mit der Faust oder einer Waffe entgegenzustellen. Wie auch – mit seinen feingliedrigen Händen und den
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