Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
lehnte vor dem großen Marmorkamin. Mit gesenktem Haupt betrachtete er die beiden in Pyramiden auslaufenden Karyatiden, auf denen die schwere Kaminkonsole ruhte. Wie üblich stellte er das Bild geistig auf den Kopf und malte sich aus, wie die Pyramiden den Menschen stützen könnten. Er fragte sich, ob es wohl eine Kraft gäbe, die von unten anstelle von oben wirkte. Während er vor sich hin starrte, sah er aus den Augenwinkeln eines seiner Notizblätter, das von einem Luftzug sanft hochgewirbelt wurde und dann langsam kreisend wieder zu Boden segelte.
»Die Kraft der Luft gegen das Ding ist gleich dem Ding gegen die Luft. Das ist der Widerstand, meine Herren, der Widerstand.«
Er hatte sich an niemand Bestimmtes gewandt, und doch hörten ihm alle perplex zu.
»Archimedes hat so über das Wasser gedacht, und ich werde es mit der Luft tun. Versteht Ihr?«, Leonardo kratzte sich am Bart. »Man blähe eine auf dem Kopf stehende Pyramide aus Linnen mit Luft auf, und je größer sie ist, desto größer ist das Gewicht, das sie zu halten vermag. Ein Mensch könnte sich sogar aus großer Höhe hinabstürzen, ohne dabei Schaden zu nehmen!«
Brummelnd eilte der florentinische Gelehrte zwischen dem Kardinal und Ada Ta hindurch und stieg schnurstracks in seine Kammer hinauf. Der Mönch klopfte zweimal mit seinem Stock auf den Boden.
»Der Mächtige spricht zu jedem, der Intelligente mit dem, der ihn verstehen kann, und der Weise spricht allein mit dem Herzen.«
»Wohl denn, so versuche ich alle drei in mir zu vereinen«, sagte Giovanni de’ Medici und rieb sich die Hände. »Zuerst möchte ich aber mit unserem alten Freund Ferruccio de Mola sprechen, der mir wie ein Bruder ist, da ihn mein Vater wie einen Sohn liebte.«
Ruhigen Schrittes ging Ferruccio auf ihn zu, und Silvio folgte ihm wie ein Schatten. Er ging an Carnesecchi vorbei, der einen Gruß andeutete, den Ferruccio jedoch nicht erwiderte. Sie standen am Fenster, und während sich Ferruccio dem Kardinal näherte, verspürte er den Drang, ihm sein Ohrläppchen abzubeißen. In einer Schlacht hatte er auf diese Weise einmal einen Gegner verwirrt, der ihn im Nahkampf zu Boden geworfen hatte. Als Ferruccio ihm ins Ohr gebissen hatte, konnte er sich aus seinem Griff befreien und dem Schreienden einen Dolch in den Leib rammen.
»Was ist mit Leonora? Sagt es mir«, flüsterte er, »oder – und ich schwöre es bei Gott – ich werde Euch und die beiden Bastarde, die Euch hier begleiten, töten.«
»Ihr geht es gut, und bald wirst du sie wiedersehen – sofern du Wort hältst.«
»Ich habe das getan, was Ihr von mir verlangtet. Die Gefangenen sind hier, bei Gesundheit und in Sicherheit. Sie gehören Euch. Und nun sagt mir, wo Leonora ist.«
Ferruccios Stimme klang entschlossen, obwohl er in gewissen Momenten ein leichtes Zittern nicht unterdrücken konnte.
»Habt Vertrauen, Ferruccio, und vertraut auf Gott. Bald wird alles zu Ende sein.« Der Blick des Kardinals wanderte zu Silvio. »Und bis es so weit ist, überbringe ich Euch den Beweis, dass es ihr gut geht und sie bei bester Gesundheit ist.«
Flink legte der Kardinal ein gefaltetes Brieflein in Ferruccios Hand. Hastig öffnete Ferruccio es, und er erkannte die Schrift seiner Frau.
Mein Liebster, sei ruhigen Mutes und lies sorgfältig. Erinnere dich und meditiere über jeden Satz, vertraulich und gläubig, und mache unsere Liebe nicht sprachlos und lösche sie nicht aus. Verzeih mir, geh nicht fort von mir. Solange die Hoffnung währt, gedeiht das Wohlergehen. Für immer dein, Leonora
Er erkannte auch die Unterschrift wieder, ohne Schnörkel und mit einem kleinen Kringel am »L«, das einem griechischen Alpha ähnelte. Die Worte jedoch waren eigenartig, sie schienen nicht aus ihr zu kommen – vielleicht waren sie ihr ja diktiert worden. Jedenfalls war sie am Leben, und das war das Einzige, was zählte. Nun musste auch er sie wissen lassen, dass es ihm gut ging. Ferruccio zog seinen Ring vom Finger.
»Überbringt ihr diesen Ring – das ist das Einzige, was ich von Euch erbitte. Im Namen des Kreuzes, das Ihr um den Hals tragt.«
»Gut gemacht, Ferruccio. Ihr werdet sie wiedersehen.«
Als der Kardinal mit Silvio an jenem Abend davonritt, schaute er sich den Ring genauer an. Er wog und bewertete ihn und befand ihn für mangelhaft. Am Schluss gab er ihn Silvio, der sich von seinen Steigbügeln erhob und ihn mit einem kräftigen Wurf schwungvoll in den Tiber beförderte. Giovanni applaudierte anerkennend
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