Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
und zahlreiche Menschen riefen Īsās Namen. Suchend hielt er in der Menge nach seinem Meister Ong Pa Ausschau, in der Hoffnung, von ihm einen Hinweis für das Thema seines heutigen Diskurses zu erhalten. Als er gewahr wurde, dass der Meister nicht da war, hob er seine Arme, um die Menschen zu begrüßen.
»Früher oder später werden sie dich zum Dorfvorsitzenden machen«, flüsterte ihm Gaya zu, die Yuehan an der Hand hielt und auch die kleine Gua Pa auf dem Arm trug. »Ob du es willst oder nicht. Du bist bereits jetzt ihr Meister; du trägst das Zeichen der Götter in dir, und das haben sie verstanden – wenn es auch deine Frau war, die es als Erste wusste.«
Īsā beschleunigte seine Schritte. Er wusste, dass seine Frau recht hatte, aber wie sollte er diese Aufgaben erfüllen und gleichzeitig genug Zeit haben, um mit seinen Kindern zu spielen? Genau. Darüber würde er jetzt sprechen. Er setzte sich auf einen Felsen und nickte jedem Einzelnen in der Runde zu.
»Wie viel Freude unsere Kinder haben, wenn sie mit Stock und Stein spielen, nicht wahr?« Alle nickten zustimmend. »Und ihr vergesst eure Sorgen, wenn ihr weiße und schwarze Spielfiguren auf einem Brett hin und her schiebt und so tut, als würdet ihr Völker und Länder erobern.«
»Du hast recht«, unterbrach ihn ein alter Mann. »Das Schachspiel ist in der Tat eine große Erfindung. Ich spiele es jeden Abend mit meiner Frau, auch wenn sie nur noch ein zahnloses altes Weib ist.«
Viele lachten, aber noch viel mehr, als sich sein Weib erhob und ihm mit einem Holzstock auf seine Hände schlug, mit denen er seinen Kopf zu schützen suchte.
»Ja, lacht nur, das ist richtig, das ist das Leben«, lachte Īsā. »Denn das Spiel ist nichts anderes als der Schmelztiegel, aus dem das Öl der Glückseligkeit gewonnen wird. Es ist wie das Entsalzen des Meerwassers, damit es rein wird und unseren Durst stillt. Das sagte ein Meister, der sich Aristoteles nannte.«
»Ein Meister wie du und Ong Pa?«, fragte ihn ein Jüngling, der sich bereits den Kopf rasiert hatte, um seine Lehrzeit bei den Mönchen anzutreten.
»Er ist ein noch viel größerer Meister.«
Alle wurden ernst, als sie diese Worte vernahmen.
»Unser Verstand«, fuhr Īsā fort, »der uns von den Tieren unterscheidet, erinnert uns immer wieder daran, dass wir geboren wurden, um zu lächeln. Das ist etwas, das die Tiere besser können als wir. Wenn ihr ein Wollknäuel vor eurer Katze hin und her schwenkt – wer hat mehr Spaß an diesem Spiel? Ihr oder die Katze? Der Makake lacht, und der Esel auch. In den Büchern meiner Vorfahren steht geschrieben, dass auf der Erde zu Anbeginn der Welt ein Gott einen Garten der Freuden schuf, und das war der Hort, an dem er mit den Menschen und den Tieren spielte.«
»Und warum gibt es ihn nicht mehr?«, fragte eine Frau. »Was für ein grausamer Gott!«
»Diesen Garten gibt es sehr wohl noch. Und unsere Kinder kennen ihn. Aber wenn wir erwachsen werden, verlieren wir ihn aus den Augen.«
»Ich kenne diesen Garten«, sagte ein Händler, der mit Yakfellen handelte. »Kaiser Han besitzt ihn. Dort soll es alles geben, was das Herz begehrt: Überall wird gelacht, es gibt schöne Frauen, schöne Pferde, Nahrung und zahlreiche Freunde.«
Ein zustimmendes Gemurmel erhob sich, und jeder gab zu, dass nur der Überfluss Fröhlichkeit und Glück fördern könne.
»In den letzten hundert Sonnenzyklen sind über tausend Eltern, Kinder, Ehefrauen, Ehemänner und Verwandte am Hofe unserer Kaiser getötet worden«, erwiderte Īsā. »Keiner von ihnen hat je gelacht oder wenn, dann nur in einigen wenigen Momenten seines Lebens. Du hast zahlreiche Freunde, sagst du, aber woher weißt du, ob du ihnen trauen kannst? Wenn du plötzlich mit Gold überhäuft würdest und reich wärst, wie könntest du wissen, ob sie dir nur nahe sein wollen, weil es sich für sie lohnt? Oder ob sie gar vorhaben, dich zu bestehlen? Vielleicht verbergen sie hinter ihrem Lächeln ja sogar einen Dolch?«
Der Mann gab keine Antwort. Ein Jüngling nahm eine Schale und schenkte ihnen allen gesalzenen Tee mit Gerstenmehl und Yakbutter ein, der in einem Kupferkessel über dem Feuer kochte. Īsā pustete, um den Tee ein wenig abzukühlen, und nahm dann einen Schluck. Er spürte, wie sich das Getränk bis tief in seine Lenden ausbreitete und sein inneres Feuer besänftigte.
»Lege als Zeichen des Friedens deine Hände in den Schoß deines Feindes«, fuhr Īsā fort. »Vielleicht wirst du sein Freund
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