Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
nur einen Finger zu rühren.
»Oh, so wie Ihr. Gleichmäßig und friedlich. Hättet Ihr mehr Fell – Ihr wärt ein vortreffliches Yak.«
Gua Li näherte sich Ferruccio, während der angsterfüllte Kardinal mit weit aufgerissenen Augen am Fenster lehnte. Carnesecchi reagierte nicht auf seinen hilfesuchenden Blick.
»Mir geht es gut«, flüsterte Ferruccio der jungen Frau kaum hörbar zu. »Ich glaube, ich bin nicht einmal verletzt.«
Sein Wams war zerrissen, und das Hemd darunter hatte sich rot gefärbt.
»Du blutest.« Gua Li holte aus ihrem Säckchen eine kleine Flasche. »Aber es ist nur ein oberflächlicher Schnitt.«
Während Ada Ta den Kardinal unverwandt anlächelte, reinigte Gua Li die Wunde und rieb sie mit einer rosafarbenen Salbe ein, die sie in einem Döschen unter ihren persönlichen Sachen aufbewahrte. Ferruccio kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Lippen.
»Es brennt! Wie glühendes Eisen!«
»Halt still, nicht bewegen! Aber du hast ganz richtig gelegen. Es ist Eisenpulver, mit Silberstaub und Talg vermischt. Diese Salbe reinigt die Wunde und schließt sie. Sie ist nicht tief, und du wirst bald wieder gesund sein.«
»Es tut mir leid … ich wollte nicht …«
»Überlasse es Ada Ta, er weiß .«
»Gua Li …«
»Ja?«
»Der Kardinal hat über ein Buch gesprochen, das er haben will, und zwar von mir. Aber ich weiß von nichts. Ich möchte wissen, ob er die Wahrheit spricht oder ob es nur eine weitere seiner Lügen ist.«
»Du wirst alles erfahren, Ferruccio. Doch nun musst du ruhen.«
Zwischenzeitlich hatte der Mönch angefangen, eindringlich mit dem Kardinal zu konferieren, und Carnesecchi beobachtete verblüfft, wie sich die Rollen plötzlich verkehrt hatten: Der eine nickte respektvoll, während der andere ihn liebevoll zu ermahnen schien. Hätte der Orientale nicht so ärmlich ausgesehen und andere Gesichtszüge gehabt, so hätte man meinen können, den Papst mit einem seiner Sekretäre vor sich zu haben. In diesem Moment hatte Carnesecchi eine Vision: Er sah diesen Mann auf dem Thron Petri sitzend in Kleidern, die einem Diener des Herrn schicklicher waren als die Mode, die Alexander VI. trug: ein einfaches Gewand, ohne Pomp und Gloria, ohne Symbole des Ruhmes und der Herrlichkeit. So mochten die ersten Apostel ausgesehen haben, Männer des Glaubens und bescheiden in ihrem Auftreten. In seiner Vision sah er auch eine Kirche voller einfacher Menschen vor sich, die fröhlich der Botschaft des Friedens und der Liebe lauschten. Doch dann verwandelte sie sich in eine Höllenvision – denn pünktlich zum Ende der Predigt stellten die Priester seiner Vorstellung wieder dieselben Forderungen wie die realen, und sie forderten denselben Obolus ein.
Carnesecchis Vision verschwand. Ada Ta holte nun eine Art Buch hervor, das eher eine Ansammlung einzelner Seiten war, die von zwei Holztafeln zusammengehalten wurden. Der Kardinal bedachte es mit gierigen Blicken. Erstaunt hob Ferruccio den Blick zu Gua Li, die ihm beruhigend zunickte. Das Buch existierte also wirklich. Und als er sich umdrehte, sah er, wie sich die gebeugte Gestalt von Giovanni de’ Medici entfernte. Carnesecchi und Silvio gingen ihm voraus. Der junge Novize konnte kaum laufen, denn seine Arme waren unter der Kutte mit nassen Hanfseilen zusammengebunden worden – eine flinke Arbeit des Fesselungsartisten Gabriel. Sobald die Seile trockneten, würden sie nachgeben und Passerini sich selbst befreien können.
In dieser Nacht schlief nur Ferruccio, dem ein Aufguss aus Weidenblättern und Mohn in den Schlaf geholfen hatte, tief und fest. Am nächsten Tag hatte der Tramontanawind die Wolken der Nacht vertrieben. Die ersten Schwalben waren zu ihrer Reise gen Süden aufgebrochen, und die Luft war erfüllt von ihren Rufen.
»Die frische Morgenluft ist wie der Wurm, den die Nachtigall ihrer Brut bringt.«
Wie immer betrat Ada Ta, ohne anzuklopfen, Gua Lis Schlafzimmer. Ihrem weiblichen Instinkt folgend zog sie sich die Decke bis zum Kinn hoch. Ada Ta öffnete die Vorhänge, und sofort fiel grelles Licht auf Gua Lis blinzelnde Augen.
»Was hast du gesagt? Warum weckst du mich? Was ist geschehen?«
»Ein Weiser hätte nur die dritte Frage gestellt, um alle Antworten zu erhalten – und wenn die Natur uns schon zwei Ohren und nur einen Mund gab, so …«
»Ja, ich weiß: Man sollte mehr zuhören als reden. Ich höre dir ja zu.«
»Das heißt, dass du nun weiser bist als ich, denn jetzt spreche ich. Das erinnert mich daran,
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