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Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
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versuchen, den Lauf der Dinge zu ändern oder sie gar ihrem Willen zu unterwerfen. Ich hingegen beobachte nur die Kräfte der Natur. Mit ein bisschen Übung kann man sehr viel von ihnen lernen.«
    »Unter anderem auch vorherzusehen, wann Sternschnuppen zu sehen sind«, grinste sein Sohn. »Werde ich das auch können, wenn ich groß bin, Vater?«
    »Das hängt von dir ab, Yuehan. Doch erscheint es mir, dass wir wieder zu der Frage zurückkehren, die du mir immer noch nicht gestellt hast. Du sagtest, ›wenn ich groß bin‹ – das heißt also, dass du dich immer noch klein fühlst. Also scheint deine Mutter wieder einmal Recht zu behalten.«
    Yuehan runzelte die Stirn und kreuzte die Arme vor der Brust. Er hatte es immer noch nicht geschafft, die Frage zu stellen, und sein Vater hatte ihm jede Möglichkeit genommen, eine Antwort darauf zu erhalten. Auch Schmollen würde nichts bringen, so gut kannte er seinen Vater schon. Die letzte Möglichkeit, die ihm blieb, war, die Behauptung seines Vaters ruhig und konzentriert zu widerlegen. Noch wusste er allerdings nicht, wie. Von dem Felsen aus, auf dem sie saßen, konnte er Sayed sehen, der zu ihnen hinaufgestiegen kam und sich dabei auf seinen Stock aus Teakholz stützte. Bei jedem seiner Schritte schlug er mit seinem Stock kurz auf den steinigen Boden. Das war seine Art, sich anzukündigen und erkannt zu werden.
    Es gab keine großen Gefahren da oben, doch ab und an erreichten auch sie Geschichten über die Raubzüge bewaffneter Banden des neuen Kaisers Guangwu. Sein Vorgänger, Kaiser Wang Mang, ein Weiser und Gerechter und Erster und Letzter der Xin-Dynastie, hatte die Lehren Īsās angenommen und die reichen Familien enteignet, um ihr Land den Bauern zu geben. Brach liegende Felder wurden dem Staat zugesprochen und die Preise für Lebensmittel kontrolliert, damit das Volk keinen Hunger mehr litt. Der alte Kaiser hatte auch verfügt, dass den Armen zinslose Darlehen gewährt werden sollten. Vor den Männern hatte Īsā keine Furcht. Wenn sie ihn als einen der engsten Vertrauten ihres ehemaligen Herrn erkannten, würden sie ihm kein Haar krümmen.
    Doch die Zeiten hatten sich geändert. Seitdem der Kopf Wang Mangs aufgespießt auf einer Lanze tagelang vor dem kaiserlichen Palast in der Hauptstadt Luoyang ausgestellt worden war, konnten die Soldaten des neuen Kaisers Guangwu ungestraft grausame Verbrechen an denjenigen begehen, die Wang Mang unterstützt hatten. Seit einiger Zeit hörte man aus den weiter unten liegenden Tälern immer öfter von Überfällen auf ganze Dörfer und von grausamen Morden. Die Frauen der Dörfer wurden wiederholt vergewaltigt, damit sie schwanger wurden und die Kinder dann entführt und zu Sklaven gemacht.
    »Rabbi! Rabbi!«
    Sayeds keuchende Stimme unterbrach die Monotonie seiner Stockschläge.
    »Sayed, ich bitte dich!«, rief Īsā aus. »Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst mich nicht Rabbi nennen. Ich bin kein Meister.«
    »Ja, Rabbi. Also, du willst nicht, dass ich dich Rabbi nenne – mittlerweile ist es jedoch gefährlich, dich Īsā oder Jesus zu nennen. Wie soll ich dich also rufen, damit du mir antwortest? Vielleicht mit dem Ruf des haarigen Yaks?«
    »Nenne mich Freund. Ich habe sonst keinen, und daher werde ich wissen, dass du es bist.«
    Sayed setzte sich und ließ sich von Yuehan umarmen, wuschelte ihm dabei durch die Haare und lächelte ihm zu.
    »Lässt du mich einen Moment alleine mit deinem Vater sprechen?«
    »Ja, in Ordnung. Solltest du ihn verstehen, dann bedeutet es, dass du auch ein großer Meister bist.«
    Sayed wartete ab, bis sich der Jüngling entfernt hatte, und erst als er sah, dass er in die Hütte ging, wandte er sich an Īsā. Tiefe Sorgenfalten standen auf seiner Stirn.
    »Es gibt schlechte Nachrichten. Unten in den Dörfern sind neue Gesichter aufgetaucht. Ich fürchte, es sind Spione von Guangwu. Und sie stellen Fragen über einen Fremden. Wer er sei und wo sie ihn finden könnten, um ihm ihre Bewunderung für seine Weisheit auszusprechen. Der neue Kaiser hat dir deine Freundschaft mit diesem verrückten Wang Mang nicht verziehen. Die Menschen sind nicht dumm, und sie lieben dich, aber nach einem Teller Suppe und einem Glas Mahuabier zu viel werden sie reden. Und dann werden die Soldaten kommen, Īsā, und sie würden sich überaus glücklich schätzen, Guangwu deinen Kopf bringen zu dürfen. Und nicht nur deinen, befürchte ich.«
    Īsā erhob sich und betrachtete das blaue Licht, das sich auf den

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