Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
»und ich will nicht, dass er so wird wie ich.« Da nahm ich Lehm vom Boden auf und beschmutzte sein Gewand. »Verlass deinen Sohn nicht«, sagte ich ihm, »sondern zeige dich ihm, wie du bist. Sprich mit ihm über deine Schwächen, deine Zweifel und die Widersprüche in deinem Leben, und er wird viel mehr aus deiner Ehrlichkeit und deinem Vorbild lernen als durch meine Worte.« Da umarmte der Mann seinen Sohn, ohne sich darum zu kümmern, ob er ihn beschmutzte, und ging mit ihm zu Fuß davon.
11.Mehr als einmal fürchtete ich um mein Leben, wie in Nazareth, als sie mich in einen Abgrund stürzen wollten, oder in Jerusalem, als sie Steine nach mir warfen. Doch ich wollte nie, dass meine Brüder und Gefährten die Gewalt mit Gewalt beantworteten. Es ist richtig, sich zu verteidigen, aber falsch anzugreifen. Ein Junge in Bethanien wies mich darauf hin, dass diese Worte im Widerspruch zu dem stünden, was ich über die gerechte Rebellion gesagt hatte. Ich erklärte ihm also den Unterschied zwischen Verteidigung und Vergeltung: Der Gegner ist besiegt, wenn er etwas Schlechtes tut, und nicht, wenn er übermannt wird.
»Wenn du darauf bestehst, den Knüppel zu schwingen, dann versuche, deinem Gegner den Knüppel aus der Hand zu reißen. Wenn dir das jedoch nicht gelingt, dann schlage ihm auf die Beine, wenn er ein Esel ist, und lauf davon, wenn er ein Löwe ist.« Und alle lachten. Die Grenze zwischen dem, der rebelliert, und dem, der Gewalt einsetzt, ist so verschwommen, dass sie nur von demjenigen erkannt werden kann, der mit den Augen der Seele sieht.
12.Kurz vor dem zweiten Pessachfest, das ich nach meiner Rückkehr in Palästina feierte, tadelten mich die Alten für die Leidenschaft, die ich in meine Reden legte, weil ich das Volk aufrührte, und geboten mir, Abbitte vor dem Herrn zu tun. Ich antwortete, dass diejenigen Frieden einfordern, die Gewalt ausüben, und dass der Dieb der Erste ist, der Gerechtigkeit fordert, nachdem er in der Höhle die Herde seines Nachbarn versteckt hat.
13.Falsche Demut ist eine Sünde, und der Friede, der aus dieser Demut erwächst, ist die Frucht derTyrannei. Es existiert kein Friede im Himmel, wenn es keine Gerechtigkeit auf Erden gibt.
14. Man brachte mir Kranke, damit ich sie heilte. Doch nur die, die daran glaubten, fanden die Kräfte, um gesund zu werden. Manchmal reichte eine billige Heilsalbe, die Wunden schließen konnte; manchmal Wasser und Akazienöl. Mehr noch als Krieg und Hunger ist das Unwissen die Ursache vieler vermeidbarer Krankheiten und Todesfälle. Die Reichen bezahlen einen Medicus, damit er sie heile, während die Armen sterben. Wenn das Wissen, wie Krankheiten vermieden werden können, geteilt würde, könnten alle Menschen in Frieden und Gesundheit existieren. Schulen braucht das Volk, keine Tempel und Paläste.
15.Ein Steuereintreiber aus Jericho kam zu mir. Er fürchtete, verjagt zu werden, da er Geld einsammelte, das als unrein galt. Als ich ihm eine Hand auf die Schulter legte und ihm anbot, sich zu uns zu setzen, brach er in Tränen aus. »Du bist der Erste, der mir etwas anbietet, ohne etwas dafür zu verlangen«, sagte er.
»Suche unter denen, die bedürftig sind«, antwortete ich ihm, »und biete ihm deine Unterstützung an. Dann gewinnst du einen Freund, der dir bis in den Tod treu ergeben sein wird. Wenn du ihm jedoch hilfst, ohne es ihn wissen zu lassen, gewinnst du einen wahren Freund.«
16.In der Nähe von Abrahams und Isaaks Grab bei Machpela fanden wir ein betendes Paar vor. Die beiden waren nicht mehr ganz jung und hofften auf einen Segen, um endlich Kinder zu bekommen. Sie waren traurig, denn es war bereits das dritte Mal, dass sie dort waren. Ich fragte sie, ob sie aus Liebe geheiratet hätten, und sie antworteten mit einem Ja. Ich fragte sie weiter, ob sie Unglück gehabt hätten, und sie antworteten mit einem Nein, außer, dass sie keine Kinder bekommen würden. Schließlich fragte ich sie, ob sie sich noch immer liebten, und statt zu antworten, sahen sie einander an und küssten sich innig.
»Liebt euch weiterhin«, bat ich sie, »ihr seid wie eng miteinander verschlungene Weinstöcke. Sie tragen die schönsten Blätter und manchmal auch die süßesten Früchte.« Im darauffolgenden Jahr brachten sie mir ihren Erstgeborenen, dem sie meinen Namen gegeben hatten. Sie versuchten, für das, was sie ein Wunder nannten, meine Hände zu küssen, doch das wahre Wunder hatte ihre bedingungslose Liebe vollbracht.
17.Zwei Schwestern aus
Weitere Kostenlose Bücher