Das Vermächtnis des Martí Barbany
würde, um zu vermeiden, dass die Schrift von der Geraden abkam, und er setzte dann auch ein paar kleine Punkte an den senkrechten Rand, damit der Zeilenabstand gleichmäßig ausfiel. In großen Schreibräumen arbeiteten die Kopisten, die den Text wiedergaben, und die Korrektoren, die das Geschriebene von Fehlern säuberten, indem sie das Pergament abschabten oder eine Säurelösung auftrugen, die die Tinte zersetzte und es ermöglichte, die Stelle neu zu beschreiben; die nächste Aufgabe fiel dem Rubrikator zu, der die Anfangsbuchstaben und Überschriften mit roter oder Ockerfarbe ausmalte; und dann beendete der Illuminator die Arbeit, indem er den Kodex mit senkrechten Randzeichnungen schmückte und die Anfangsbuchstaben mit komplizierten Arabesken verzierte. Hierfür benutzte er Mennigrot und andere Farbstoffe, wie Blau und Grün, die man aus zerstampften Pflanzenresten oder Mineralien herstellte, wozu man in ganz besonderen Fällen eine hauchzarte Goldstaubschicht hinzufügte, die der Arbeit ein noch
reicheres und würdigeres Gepräge gab. Danach wurden die Pergamente eingebunden.
Eudald Llobet besprach gerade mit Pater Vicenç, dem Bibliothekar, ob es angebracht sei, Aristoteles neu zu übersetzen, als ihm der diskrete Wink eines Dieners zeigte, dass er wegen eines Besuchs dringend zum Haupteingang kommen müsse. Pater Llobet verabschiedete sich von seinem Bruder in Christo, und als er den langen Gang durchschritt, entdeckte er von Weitem einen jungen Mann, der die beiden bunten Tafeln eingehend betrachtete, die das Mauerstück im Hintergrund des Besuchersaals schmückten. Je näher er kam, desto gründlicher konnte er das Gesicht des Mannes beobachten, und sein Herz schlug heftiger. Pater Llobet ging schneller – etwas Ungewöhnliches in diesem heiligen Bezirk, in dem stets Ruhe und Frieden herrschten – und rief mit vor Erregung heiserer Stimme: »Martí! Ihr seid Martí!«
Als der junge Mann seinen Namen hörte, drehte er sich um und stürzte in den Gang, bis er sich dem riesigen Ordensbruder in die Arme werfen konnte. Beide Männer hielten sich wortlos umschlungen. Pater Llobet nahm dann Martí an den Schultern und schob ihn zurück, damit er ihn besser betrachten konnte. Er stellte etwas Überraschendes fest. Anstelle des Halbwüchsigen, der vor schon fast zwei Jahren aus Barcelona abgefahren war, hatte er einen Erwachsenen vor sich, das leibhaftige Ebenbild jenes Soldaten, der sein Kamerad gewesen war, mit dem entschlossenen Gesichtsausdruck und etwas Geheimnisvollem in seinem tiefen Blick.
»Wann seid Ihr zurückgekommen?«
»Mein Schiff hat gestern Nachmittag vor der Küste von Montjuïc geankert. Tausend Angelegenheiten haben mich seit meiner Ankunft festgehalten, doch außer dass ich Laia sehen möchte, hat mich nach nichts so sehr verlangt, als mit Euch zu sprechen.«
Der Ordensbruder nahm Martí am Arm und geleitete ihn zu einem vom Eingang entfernten Winkel, wo sie ungestört reden konnten.
Beide setzten sich unter das doppelte Fächerfenster.
»Erzählt mir zuerst von Eurer Reise.«
»Dieses Thema reicht für viele Abende«, sagte Martí in einem ruhigeren Ton, als ihn der Domherr von ihm kannte. »Und so große Mühe ich mir auch gebe, es bleibt immer etwas übrig.«
»Irgendwann müsst Ihr damit beginnen: Machen wir heute einen Anfang.«
Martí gab einen ausführlichen Bericht über seine gefährliche Weltreise.
Llobet unterbrach ihn an vielen Stellen und bat um nähere Erklärungen, und danach hatte sich der Geistliche eine allgemeine Vorstellung von den Abenteuern des Sohns seines besten Freundes gemacht.
»Es wird noch Zeit sein, dass Ihr mir das mit dem ›Griechischen Feuer‹ gründlich erklärt. Meine Neugier als Soldat hat mich oft gedrängt, in Pergamenten und Handschriften der Bibliothek nachzuforschen, wie sich dieses Wunder zusammensetzt, doch ich hatte verstanden, dass die Formel im Dunkel der Zeiten untergegangen war. Seid Ihr Euch bewusst, was die Kenntnis des Stoffs für den König oder Herrscher bedeuten kann, der sich dieser Mischung bemächtigt?«
»Eigentlich habe ich nur an den Vorteil gedacht, den sie für das Alltagsleben der Menschen bringen kann.«
»Wenn Ihr daran denkt, dieses Produkt einzuführen, müsst Ihr die betreffenden Personen unbedingt überzeugen, dass diese schwarze und dicke Flüssigkeit nur dazu dient, verbrannt zu werden, um Licht und Wärme zu spenden. Sagt nichts von der Formel, die Ihr gefunden habt. Die Menschheit darf von manchen
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