Das Vermächtnis des Martí Barbany
einen sonderbaren Kasten, stellte ihn auf den Tisch und ging sogleich hinaus. Pater Llobet blickte von dem Pergament auf und rief, sobald er den Kasten gesehen hatte: »Bei den Reliquien der heiligen Eulalia! Diesen Kasten kenne ich genau. Euer Vater hat ihn erhalten, als der Graf im Jahre 1022 nach dem Feldzug von Lérida siegreich heimkehrte und die Beute verteilt wurde.«
Es handelte sich um eine mit vier schmiedeeisernen Beschlägen verstärkte Eichenkiste bester Qualität. Doch sie wies eine Besonderheit auf, die sie von jeder anderen derartigen Kiste unterschied.
»In meinem langen Leben habe ich viele außergewöhnliche Dinge verwahren müssen, aber niemand hatte jemals so etwas bei mir hinterlegt.«
Das sagte Baruch Benvenist und zeigte dabei auf die Verschlüsse der kleinen Kiste. Sie war offensichtlich etwas ungewöhnlich: Sie hatte keine Scharniere, sondern war von vier kreuzweise übereinanderliegenden, äußerst dicken gusseisernen Bändern überzogen, und an jeder Seite hielt sie ein Schloss zusammen, sodass man sie an allen vier Seiten gleichzeitig öffnen musste, wenn man den Deckel hochheben wollte. Der Jude zog einen Schlüssel mit einem sonderbaren Bart aus der Tasche seines Obergewands und erklärte: »Ihr müsst den anderen Schlüssel haben. Wenn ich zwei Riegel öffne und den Schlüssel stecken lasse, müsst Ihr die anderen zwei aufschließen.«
»Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, an den Tag, an dem mir Euer Vater den Mechanismus des Geräts erklärt hat. Anscheinend war dies früher die Schatzkiste des maurischen Königs von Tortosa, wenn er auf Reisen ging. Stecken die zwei Schlüssel nicht gleichzeitig in den entsprechenden, einander entgegengesetzten Schlössern, so lässt sich der Mechanismus nicht öffnen. Eine vortreffliche Arbeit der königlichen Schlosser«, setzte Pater Llobet hinzu.
Martí folgte Benvenists Anweisung, stand auf und ging mit zitternden Händen zum Kasten. Baruch Benvenist steckte seinen Schlüssel in ein Schloss und zeigte Martí, dass er beim gegenüberliegenden Schloss das
Gleiche tun solle. Er drehte den Schlüssel, aber der Mechanismus rührte sich nicht; nun drehte auch Martí seinen Schlüssel um, und beide Riegel knirschten auf einmal, als sie gleichzeitig aufsprangen. Hierauf zogen sie die Schlüssel heraus und taten das Gleiche mit den anderen zwei Schlössern, was zu genau demselben Ergebnis führte. Der Deckel ließ sich nun ohne Weiteres bewegen. Martí, der sich der Feierlichkeit dieses Augenblicks bewusst war, hob den Deckel hoch. Vor den erwartungsvollen Augen der drei tauchte der Ertrag der beständigen Mühen eines Mannes hervor, der sein ganzes Leben lang an den Grenzen gekämpft hatte. Den Boden bedeckten Münzen, deren Summe, wie man auf den ersten Blick deutlich schätzen konnte, mehr als tausend oder tausendfünfhundert zaragozanische Goldmancusos betragen musste. Darüber zog eine Schmucksammlung von beträchtlichem Wert alle Blicke auf sich. Zu ihr gehörten goldene Geschmeide und Ohrringe, ein Armband mit einem blauen Saphir, und alles wurde von einem Diadem übertroffen, das gewiss einer Königin gehört hatte. Es bestand aus Gold und Edelsteinen, und den Mittelpunkt bildete ein wie eine Träne geformter Rubin, der im Kerzenlicht wie ein großer Blutstropfen glänzte.
»Wahrhaftig, Euer Vater hat Euch zu einem reichen Mann gemacht«, sagte der Jude.
»Nutzt diesen Schatz vernünftig und vergeudet nicht den Ertrag der jahrelangen Mühen und Nöte Eures Vaters«, kommentierte Pater Llobet.
Es fiel Martí schwer, seinen eigenen Augen zu trauen, und er ließ sich einen Augenblick Zeit zum Nachdenken, bevor er etwas sagte.
»Ich rufe Gott als Zeugen an, dass ich dieses Vermächtnis dafür verwenden will, die Wünsche meines Vaters zu erfüllen, und hierfür erbitte ich Eure Hilfe und Euren Rat. Ich möchte versuchen, dass ich mit alledem für das Wohl vieler Leute sorge, um die Übel auszugleichen, die er ihnen durch die traurigen Zwänge seines Berufs gewiss zugefügt hat. Wenn ich dieses Versprechen erfülle, möge mich der Herr im Himmel dafür belohnen, und sonst soll er mich bestrafen.«
11
Die Begegnung
Toulouse, Dezember 1051
D er Gang war lang, gewunden und mit vielen Abzweigungen, die zu anderen Zimmern oder nach draußen führen mussten. Das Männchen trug einen Kandelaber, der ihnen den Weg erleuchtete, und an einer bestimmten Stelle stiegen beide einige aus dem gewachsenen Felsen herausgehauene Stufen
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