Das Vermächtnis des Martí Barbany
dem ersten Stockwerk hinunterführte. Eine Steinbank, die zwischen ein paar Blumenbeeten und unter einem dicht belaubten Magnolienbaum stand, stellte, wie ihm der Zwerg sagte, den Beichtstuhl seiner Herrin dar. Eine plätschernde Wasserrinne bildete den Hintergrund des behaglichen Winkels. Unauffällig wie ein Schatten verschwand Delfín, und Ramón Berenguer, der Graf von Barcelona, blieb allein. Er war nervös und verwirrt wie ein Soldat vor seinem ersten Gefecht. Gräfin Almodis erschien oben auf der Treppe, und er spürte, wie ihm das Herz beinahe stehen blieb, als sich ihm bestätigte, dass es kein Traum gewesen war. Ein violetter Bliaud mit an den Achseln leicht gepufften und die Arme eng umschließenden Ärmeln, die mit je einem Band an ihren Mittelfingern befestigt und mit goldenen Posamenten verziert waren, betonte ihre herrliche Figur. Die prächtige rote Haarflut war zu einem dicken Zopf zusammengebunden und fiel glatt auf ihre rechte Schulter. Ramón meinte, er sehe eine überirdische Erscheinung. Lächelnd und selbstsicher gelangte Almodis zu ihm. Sie streckte ihm die Hand entgegen, damit er sie küsste. Ohne dass er sie losließ und beinahe ohne es zu merken, fand er sich an ihrer Seite wieder, als er auf der Steinbank saß.
»Ist das hier ein sicherer Ort, Herrin?«
»Der sicherste im ganzen Schloss. Hier lege ich gewöhnlich die Beichte ab. Der Abt Sant Genís ist der Einzige, der hierherkommt, und das nur, wenn ich ihn dazu auffordere.«
Almodis de la Marche war wunderschön, sie begeisterte sich für Politik und hatte einen einzigen Ehrgeiz: Sie wollte über ihr zukünftiges Schicksal selbst bestimmen, um nicht wieder in eine solche Lage zu geraten, wie die Entscheidungen anderer sie hatten erleiden lassen. Nach einem Augenblick, der Ramón wie eine Ewigkeit vorkam, ergriff sie das Wort.
»Ich weiß, dass Ihr so gut wie ich wisst, warum wir hier sind.«
»Herrin...«
»Sprecht noch nicht, Graf, lasst mich es tun.«
Ramón erbebte. Er nahm Almodis’ beide Hände und wartete.
»Was uns gestern widerfuhr, ist etwas wie in den alten Texten, und bis heute habe ich immer geglaubt, so etwas gehöre zu den Geschichten der Troubadoure und den Liedern der Dichter. Ich bin sicher, dass Ihr das Gleiche fühlt. Fragt mich nicht, woher ich es weiß. Aber seit dem Augenblick, als Ihr gestern Morgen durch die Tür des Thronsaals eingetreten seid, wusste ich, dass man sich gegen so etwas nicht wehren kann. Wenn dieses Gefühl nur ein einziges Herz beherrscht, vermag man noch zu widerstehen, wenn stattdessen beide Herzen das Gleiche empfinden, behält das Schicksal das letzte Wort. Nie lernte ich das Glück kennen, doch nicht das beunruhigt mich: Ich bin eine erwachsene Frau, und bis gestern wurde mein Herz noch nie von einem derartigen Gefühl überwältigt. Als ich zum ersten Mal verheiratet wurde, hat man meine Ehe annulliert, beim zweiten Mal wurde ich verstoßen, doch nichts hat meine Seele in solchen Aufruhr versetzt wie das, was ich heute Nacht fühlte. Graf, meinem Leben fehlt der Sinn, wenn ich nicht hoffen darf, Euch von Zeit zu Zeit zu sehen.«
Ramón Berenguer meinte, jeden Augenblick aus diesem schönen Traum aufzuwachen. Er wagte nicht einmal zu atmen, weil er befürchtete, den Zauber zu zerstören. Als er sah, dass sie ihre Bekenntnisse unterbrochen hatte, fand er den Mut, etwas zu äußern.
»Glaubt mir, wenn ich Euch sage, dass mein Geist nicht einmal verzagte, als ich in noch sehr jungen Jahren gegen den Mauren auf den Kampfplatz trat. Bis gestern hatte auch ich die Liebe nicht kennengelernt, und wie Euch hat man mich zweimal verheiratet. Ich hatte meine Eltern verloren und war kaum herangewachsen, als meine Großmutter Ermesenda von Carcassonne, die Regentin der Grafschaft, mir aus Gründen der Staatsräson eine Gattin unter den adligen Frauen Barcelonas suchte. Ich kannte die Liebe nicht, und in meiner Unschuld glaubte ich, mein halb dankbares und halb zärtliches Gefühl sei Liebe. Elisabet schenkte mir mehrere Kinder, und vor zwei Jahren ist sie von mir gegangen. Alle bedrängten mich, dass es zweckmäßig wäre, wieder zu heiraten, und abermals hat meine Großmutter die Ehe arrangiert: Die Auserwählte war diesmal Blanca von Ampurias, und bis heute war es mir gleichgültig, ob ich weiter als Witwer lebte oder wieder heiratete. Wie Ihr
seht, konnte ich bisher ebenso wie Ihr nicht frei entscheiden, mit wem ich mein Leben teilen möchte.
Das Gefühl, das uns mit einem Mal vereint hat,
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