Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
du den Freitod in der Kälte, Ragnhild!« Aluschs Verzweiflung wuchs. Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. »Der … der Freitod ist eine Sünde«, versuchte sie es kläglich weiter, obwohl sie selbst hörte, wie lächerlich ihre Überredungsversuche angesichts ihrer grausamen Erlebnisse klangen.
Ragnhilds Stimme klang flach. »Was kümmert mich das? Ich will nicht ohne Albert leben. Ich gehöre an seine Seite.«
Aluschs Ton wurde wieder etwas weicher. Sie hockte sich neben Ragnhild und legte ihr beide Hände auf die Wangen. Auge in Auge sagte sie: »Nein, du gehörst jetzt zu deinen Kindern und Enkelkindern. Willst du, dass sie noch ein Elternteil und noch ein Großelternteil einbüßen? Meinst du nicht, es wird schwer genug für Runa, Margareta und Godeke sein, ihren Vater verloren zu haben? Du musst ihnen jetzt beistehen. Es ist deine Pflicht als Mutter. Albert hätte das auch gewollt. Ganz bestimmt sogar. Und du weißt das.« Eine Weile lang geschah nichts. Alusch zerriss es fast das Herz, so mit der Trauernden sprechen zu müssen, doch es war ihre einzige Möglichkeit. »Nun steh auf, Ragnhild. Wir müssen gehen.«
Die Witwe schien noch einmal über die letzten Sätze ihrer Freundin nachzudenken. Dann erhob sie sich. Der Gedanke an ihre Kinder ließ sie sich aufrichten, wenn auch unendlich langsam. Sie schaute nicht mehr zurück, nachdem sie begonnen hatte, von Albert fortzuschreiten. Zu groß war ihre Angst, es nicht mehr weiter zu schaffen. Als sie neben einem der Pferde stand, wurde ihr bewusst, dass dies das letzte Mal gewesen sein sollte, dass sie sein Gesicht gesehen hatte. Kurz überlegte sie, doch noch einmal zurückzulaufen, aber das war nicht nötig. Alberts Antlitz war für alle Zeit in ihr Gedächtnis gebrannt. Nie würde sie es vergessen!
Sie saßen auf. Alusch ritt auf der Schimmelstute, Ragnhild auf der Braunen. Das Fohlen und der Zelter folgten ihnen auf dem Fuße. Jons hatte aus den überlangen Gürteln der Frauen und denen der Toten behelfsmäßiges Zaumzeug und Zügel geknotet. Außerdem hatte er Ragnhild und Alusch fremde Mäntel umgelegt – keine von beiden fragte, woher sie kamen, wussten sie doch, dass sie einem der Toten gehören mussten. Mehr als das besaßen sie nicht, als sie ihren Weg nach Nordwesten einschlugen. Sie alle kannten ihn nur allzu gut. Es war der Weg nach Hamburg.
9
Schon beim morgendlichen Verlassen des Kunzenhofs war für die drei deutlich zu sehen, dass heute ein Feiertag war. Aus jedem Winkel kamen ihnen Kinder entgegen, die als Apostel, Heilige, Engel, Könige, Priester oder Edelleute verkleidet waren und fröhlich und ausgelassen sangen. Überall hingen immergrüne Zweige und geschnitzter Holzschmuck an den Häusern, und es duftete nach gebackenen Äpfeln und Nüssen. Die Hamburger trugen ihre besten Gewänder – genau wie Runa und Walther selbst und wie Freyja, die mit offenem Mund an der Hand ihres Vaters ging.
Mit Absicht schlugen die Eltern einen Weg ein, der durch die Straßen der Reichen führte, denn diese hatten sich mit dem Verzieren ihrer Häuser wohl gegenseitig zu übertreffen versucht. Hier gab es zu den Schnitzereien auch noch Früchte und bunte Bänder in den Zweigen, und jeder, der es sich leisten konnte, ließ sein Haus im Lichte unzähliger Kerzen erstrahlen. Sie waren bereits einen gewaltigen Umweg durch die Straßen der Stadt gegangen, als sie endlich den Weg Richtung Mariendom nahmen, dessen Turm weit in den Himmel ragte. Noch hatten die Glocken darin nicht geläutet, doch an den herbeiströmenden Hamburgern konnten sie erkennen, dass die Messe bald beginnen würde. So gesellten auch sie sich jetzt in den Strom der Kirchgänger. Gemeinsam mit ihnen betraten sie das Innere des Doms, dessen Umbauten bis zum heutigen Tage noch einmal kräftig vorangetrieben worden waren. Nur die Gerüste auf der Nordseite störten noch den Blick des Betrachters. Das südliche Seitenschiff war fast frei von den hölzernen Gestellen. Immer mehr klarte sich das Bild des Doms und gab die Sicht frei auf jene Gestalt, die er bald haben sollte.
Runa schaute sich um. Ihr Blick galt jedoch nicht dem Gotteshaus, sondern vielmehr den Köpfen vor sich. Noch hatte sie niemanden von ihrer Familie entdeckt, doch Godeke, Oda, Ava und ihre Jungs dürften nicht mehr lang auf sich warten lassen.
Und tatsächlich: Weiter hinten im Langhaus fand sie sie. »Da seid ihr ja!«, freute sich Runa übermütig und drückte Ava an sich, der die anderen auf dem Fuße
Weitere Kostenlose Bücher