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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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folgten.
    Die Witwe strich Freyja über das wunderschön geflochtene Haar, in das zahlreiche bunte Bänder eingearbeitet waren. »Hübsch siehst du aus.«
    »Das war Tante Margareta«, ließ das Mädchen stolz verlauten und hielt die Enden ihrer Zöpfe fest.
    Runa wandte sich lächelnd an Ava. »Sie hatte es Freyja versprochen, damit es nicht wieder die Kinderfrau macht, die beim Kämmen wohl nicht gerade zimperlich ist. Scheinbar hat Margareta sanftere Hände.«
    »Das ist gut. Denn wenn sie in ein paar Wochen ein Mädchen gebären sollte, kann ihr die Übung im Zöpfe flechten nicht schaden.« Ava zwinkerte Runa zu, die sich darüber freute, dass ihre Freundin offenbar wieder zu Scherzen aufgelegt war, nachdem sie die letzten Tage eigenartig still gewirkt hatte. Runa bemerkte nicht, wie krampfhaft sich die Witwe, ebenso wie Godeke und Oda, ein Lächeln abrangen. Plötzlich schaute sich Ava um. »Wo ist Margareta?«
    »Die Arme hat sich heute Morgen schon wieder so unpässlich gefühlt, dass sie nicht mitkommen konnte.«
    »Ein Jammer. Ausgerechnet heute«, klagte Ava. »In den letzten Tagen ist es ihr oft so ergangen. Hoffentlich hört das bald auf.«
    In der Zwischenzeit war es stiller im Mariendom geworden, da jedermann einen Platz gefunden hatte. Die Frauen jedoch nahmen das nicht wahr – erst als Walther sie unterbrach.
    »Wenn ihr weiterplaudert, dann verpasst ihr noch Thymmo und Ehler. Da, schaut!«
    Die Glocken des Mariendoms erklangen, und Ava, Oda und Runa drehten ihre Köpfe in Richtung Portal, durch das in diesem Moment der Kinderbischof schritt – dicht gefolgt von dem Kinderabt, den Rektoren und den älteren Chorjungen, zu denen auch Ehler zählte.
    Runa war so hingerissen, dass sie vor lauter Entzücken die Hände unter dem Kinn gefaltet hatte. Den Blick starr auf Thymmo gerichtet, sog sie jeden seiner kleinen Schritte in sich auf.
    Thymmo wirkte zwar noch immer etwas unsicher, doch er blickte nur selten zu seiner Mutter, die ihm von Zeit zu Zeit zuwinkte und ihn durch andere Gesten wissen ließ, dass er alles ganz hervorragend machte. Vorne angekommen, setzte er sich auf einen prächtigen Stuhl, der bis zum achtundzwanzigsten Dezember während jeder Messe und Vesper nur ihm gebührte.
    Runa kämpfte mit den Tränen der Rührung. Ihr kleiner Junge war einfach zu schnell groß geworden. Fast schon verloren wirkte er auf seinem thronartigen Platz, dessen Sitzfläche so groß und hoch war, dass seine kurzen Beinchen nicht auf den Boden reichten. Alle Augen waren auf ihn gerichtet – die der Ratsherren und reichen Bürger sowie deren Frauen und die der Geistlichen, die Thymmo gewählt hatten! Runa hoffte, dass ihr Kind die hohen Erwartungen der Hamburger erfüllte.
    Anders als sonst flog die überlange Messe regelrecht an den Parochianten vorbei. Viele wundervolle Darbietungen ließen die Zeit schnell vergehen. Immer wieder erklangen die hellen Stimmen der Chorjungen, die schon fast etwas Heiliges an sich hatten, und zwischendurch gab es erheiternde Predigten in Reimform und kurze Aufführungen der Schuljungen, an denen auch Ehler seinen Anteil trug.
    Runa genoss jeden Moment. Niemals würde sie diesen Tag vergessen, dachte sie glücklich, als ihr Blick durch die vier geschmückten Joche des Gotteshauses wanderte. In der Hoffnung, sich jedes Detail einprägen zu können, schaute sie die langen, schlanken Säulen entlang bis hin zu den vergrößerten Fenstern, durch die das Tageslicht schien, und wieder zurück zu den festlich gekleideten Menschen um sich. Eher zufällig als absichtlich blieb sie am Antlitz Johann Schinkels hängen.
    Die ehemals Liebenden schauten sich innig an. Ebenso wie sie lächelte auch er voller Stolz. Fast unmerklich nickte er Runa zu, die ihm ein winziges, aber warmherziges Augenblinzeln schenkte. Noch vor wenigen Monaten hätte diese kleine Geste gereicht, um ihre Knie weich werden zu lassen, doch das war heute zum Glück anders. Sie und Walther hatten endlich zueinandergefunden. Ihre Achtung und auch ihre Freundschaft zu Johann Schinkel würden allerdings niemals vergehen. Thymmo würde seine Eltern auf eine gewisse Weise für alle Zeit aneinanderbinden, und Runa war das mehr als recht!
    Als der Gottesdienst vorbei war, strömten die Menschen hinaus vor den Mariendom, wo sich bereits angeregt unterhalten wurde. Schnell hatten sich kleine Grüppchen von Frauen und Männern zusammengetan. Das Kinderbischofsspiel gab ihnen so viel Anlass zur Unterhaltung, dass die Fehde der

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