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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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und Ragnhild ewig. Trotzdem hatten sie sich an Alberts Weisung gehalten und waren nicht zur Burg zurückgekehrt – auch wenn sie kein Auge zugetan und vor Angst fast den Verstand verloren hatten. Unverändert lehnten sie noch eng beisammen an einem dicken Baum tief im Wald, dessen Geäst so dicht war, dass es tat sächlich fast den Schutz einer Höhle bot. Dennoch war ihnen die nächtliche Kälte unerbittlich in die Glieder gekrochen und ließ ihre Zähne klappern. Da die Frauen bei ihrer Flucht den Burggraben hatten durchqueren müssen, waren sie mit nassen Beinen und Füßen in den Wald gerannt. Jetzt, Stunden später, konnten Alusch und Ragnhild beides kaum noch spüren. Als endlich die Morgendämmerung einsetzte, waren ihre Tränen versiegt, die Furcht vor dem, was sie womöglich erwartete, jedoch gewachsen.
    »Ich denke, wir können jetzt zurückgehen«, entschied Ragnhild mit bangem Herzen.
    »Ja, das glaube ich auch«, bestätigte Alusch, die ebenso zittrig klang.
    »Ich werde vorangehen«, bestimmte Jons und half den Frauen beim Aufstehen. »Wir müssen trotzdem leise sein. Vielleicht treiben sich die Ritter hier noch irgendwo herum.«
    Mit vorsichtigen Schritten näherten sie sich der Riepenburg. Jedes Stöckchen, das unter ihren Füßen zerbrach, ließ sie den Atem anhalten, doch niemand außer ihnen schien sich im Wald aufzuhalten. Es war ihrer aller Glück, dass Jons den Wald um die Burg herum so gut kannte. Ohne Mühe fand er den richtigen Weg. Dennoch dauerte es, bis sie zu ihrem Ziel kamen; in ihrer Furcht waren sie gestern weit gerannt. Eine bange Weile später aber, trennten die drei nur noch wenige Baumreihen von ihrem Zuhause.
    Keiner von ihnen hatte bisher gewagt, die Burg genauer in Augenschein zu nehmen, obwohl sie es von hier aus eigentlich schon hätten tun können. Den Geruch von Verbranntem hatten sie dagegen alle schon bemerkt. Jeder von ihnen hegte die Hoffnung, dass es der abgebrannte Stall war, dem der Geruch entströmte; Hoffnung war gerade alles, was sie hatten.
    Jons bedeutete den Frauen stehenzubleiben und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen.
    »Was wollen wir nun tun?«, fragte Alusch flüsternd, der schon wieder die Tränen in die Augen traten. »Vielleicht sind die Ritter noch in der Burg …?«
    »Das glaube ich nicht …«, gab Jons ebenso leise zurück, ohne einen Beweis dafür zu haben. »Ich könnte als Erster gehen und euch ein Zeichen geben, wenn …«
    »Nein, auf keinen Fall, Jons. Wir bleiben zusammen«, beschloss Ragnhild streng. »Wahrscheinlich hast du recht, und die Ritter sind längst fort.«
    »Ja«, pflichtete die schluchzende Alusch ihnen bei. Sie zitterte. Es war ihr anzusehen, dass die Angst sie fast verrückt werden ließ. Mehr um sich Mut zuzusprechen, denn dass sie selbst daran glaubte, sagte sie: »Wahrscheinlich warten Albert und Erich schon auf uns ….« Ihre Worte wurden begleitet von einem kurzen fast schon hysterischen Lachen und Schulterzucken. Es war ihr klar, wie unglaubwürdig sie klang. »Sie … sie machen sich sicher schon große Sorgen.«
    Auch Ragnhild war deutlich anzumerken, dass die Ungewissheit sie fast um den Verstand brachte. Zu gern wollte sie glauben, was Alusch gerade gesagt hatte. Entschlossen wischte sie ihre Tränen fort. »Ich bin dafür, dass wir jetzt gehen.«
    Daraufhin schlugen sie die letzten Äste beiseite und schritten gebückt durchs Unterholz bis zum Waldrand. Als alles vor ihnen ruhig zu sein schien, näherten sie sich langsam dem äußersten Wallring; jetzt hatten sie ungehinderte Sicht. Ihrer aller Augen waren nach vorne gerichtet. Fassungslos schauten sie hinauf zum steinernen Turm.
    Die Ritter hatten die Burg angezündet – genau wie alles andere. Noch immer quoll Rauch aus den schmalen Luken. Die Häuser im Inneren des Wallrings waren bis auf ihre Grundmauern niedergebrannt. Nichts war mehr übrig von dem, was hier gestern noch gestanden hatte, bis auf nackte, geschwärzte Steine.
    »Großer Gott im Himmel, wo sind alle?«, fragte Alusch und schaute sich in jede Himmelsrichtung um.
    Da begann Ragnhild zu schreien. »Albert! Erich!« Die eben noch versiegten Tränen kamen erneut. »Albert, wo bist du?« Während sie schrie und heulte, begann sie humpelnd auf den zweiten Wallring zuzulaufen. Ihre Augen hefteten sich an die Stufen, die zur Burggrabenbrücke hochführten. Mit Händen und Füßen rannte und kletterte sie hinauf; oben angekommen stieß sie einen gellenden Schrei aus, riss die Hände hoch vor ihre

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