Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
traute seinen Augen kaum. »Komm von dem Baum runter, du könntest fallen.«
Tybbe ging gar nicht auf die beiden ein. Sie hatte einen Ast erreicht, der über den Palisadenzaun reichte. Hieran hangelte sie sich entlang und ließ sich neben Bentz ins Gras fallen.
Dieser stellte sich ihr sofort in den Weg. »Bist du verrückt geworden? Geh sofort zurück, bevor dich jemand sieht.«
»Aber ich kenne dieses Lied …!«
»Sei nicht töricht, Mädchen. Woher solltest du dieses Lied schon kennen?«
»Ich kann es mir ja selbst nicht erklären … die Melodie …«
Jetzt griff Bentz nach ihrem Arm. Er zog sie zu sich und blickte ihr tief in die Augen. Sie musste unbedingt wieder hinter die Klostermauer. »Das hast du dir eingebildet. Geh zurück, bevor es zu spät ist!«
»Nein«, sagte Tybbe mit einer Bestimmtheit, die der Müllersgehilfe bislang noch nicht an ihr gesehen hatte. »Lass mich los. Das geht dich nichts an.«
Er ließ sie gehen – auch wenn sie sich irrte und er sich sicher war, dass sie in ihr Verderben rannte.
Tybbe lief einfach los. Sie dachte nicht nach, handelte bloß nach Gefühl, und dieses Gefühl zog sie wie von selbst zu dem seltsam anmutenden Ochsenwagen mit den drei Männern und zwei Frauen.
Als diese Tybbe bemerkten, kam einer der Männer auf sie zu. Obwohl an ihrem Kleid leicht zu erkennen war, woher sie kam, verbeugte sich der Spielmann so galant vor ihr, als hätte sie königliches Blut und trüge eine Krone. »Seid gegrüßt, edle Dame. Ich bin Sibot, der sagenhafte Spielmann, und das sind meine treuen Gefährten. Wer seid Ihr, wenn Ihr mir die Frage erlaubt?«
»Ich bin Tybbe.«
»Woher kommt Ihr, Tybbe mit den schönen Augen?«
Sie schaute kurz zurück. Was sollte sie sagen?
»Sieh an, sieh an. Eine Dienerin Gottes also? Wenn das keine Ehre ist! Hoffentlich ist mein Herz rein genug für die Unterhaltung mit einer Heiligen.«
Tybbe musste kichern. Sibots Worte waren derart übertrie ben, und doch sagte er sie ohne jeden Spott. Er wusste genau, was Frauen gefiel. »Erlaubt mir zu fragen, sagenhafter Sibot: Dichtet Ihr alle Lieder selbst?«
»Das kommt ganz darauf an, schöne Tybbe. Wenn es Euch gefällt, dann bin ich der Dichter aller Lieder des Landes! Ich bin, was immer Ihr wünscht!«
Wieder entlockte er ihr mit seiner Antwort ein Lächeln. Sie wusste, dass diese umschweifenden Antworten gewollt waren – schließlich gab kein Spielmann gerne preis, woher er seine Ideen nahm. Doch sie ließ ihn nicht gewähren. Tybbe wollte es genauer wissen. »Bitte verzeiht, wenn ich so direkt nachfrage, doch das Lied, welches Ihr eben gesungen habt …«
In diesem Moment hörte sie eine ihr allzu bekannte Stimme. »Tybbe!«
»O nein, Mutter Heseke …«, hauchte sie und blickte zur Klostermauer, wo Sibilla die Chorschülerin eifrig zu sich winkte.
Auch Bentz gab ihr Zeichen, doch als sie nicht darauf reagierte, rannte er los.
Tybbe wurde heiß und kalt zugleich. Wie erstarrt blickte sie auf den herannahenden Müllersgehilfen, der sie alsbald erreichen würde. Es gab keinen Zweifel, dass er sie zurückbringen wollte. Noch einmal schaute sie zum Spielmann, der sichtlich verwirrt ob der Szenerie war. Immer wieder schaute er zwischen dem Mädchen und dem Mann hin und her, die nicht so recht zueinander passen wollten.
Dann bekam Bentz sie zu fassen. Ohne ein Wort hob er sie auf seine Arme und kehrte wieder um.
Tybbe wehrte sich nach Kräften. Sie schlug mit ihren Fäusten gegen seine Brust; vergeblich. »Was fällt dir ein. Lass mich sofort runter«, schimpfte sie entrüstet darüber, dass er einfach über sie entschied.
Jetzt schoss Sibot an dem Mann vorbei und stellte sich ihm in den Weg.
»Geh gefälligst zur Seite«, grollte Bentz bedrohlich und drängte sich an Sibot vorbei.
Dieser starrte Bentz hinterher. Er wollte keinen Ärger, dennoch rief er dem Mädchen zu: »Was wolltet Ihr wissen, Schönheit?«
Tybbe versuchte noch immer, sich aus dem festen Griff zu befreien, was allerdings nur zur Folge hatte, dass Bentz sie jetzt schulterte, um ihren Fäusten zu entgehen. Ihr wurde klar, dass sie nichts gegen seine Kraft auszurichten vermochte und dass dies ihre letzte Gelegenheit für ihre Frage war, drum rief sie: »Das Lied, welches Ihr eben gesungen habt. Sagt es mir. Wo habt Ihr es gelernt?«
»Ich lernte es in Kiel, bei …«
Bentz fuhr ein letztes Mal herum. »Schweig gefälligst, du gottloser Quacksalber. Besser ihr verlasst sofort diesen Ort und kommt nicht mehr zurück.
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