Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Gefühl der absoluten Vertrautheit, welches sie so plötzlich überkam, dass es sie schwindelte. »Aber … warum war ich hier?«
»Dein Vater …«
Tybbe drehte sich ruckartig um. »Was ist mit meinem Vater? Kennst du ihn?«
»Ja, dein Vater war Spielmann auf der Burg.«
Nun gaben Tybbes Knie tatsächlich nach. Sie fühlte sich plötzlich unsagbar schwach. Jene Neuigkeiten übermannten sie schlichtweg. Ein Spielmann also. Deshalb kannte sie das Lied!
Christin zog Tybbe wieder auf die Beine und sah sie besorgt an. »Komm, wir setzen uns dort vorne vor die Küche.« Sie stützte Tybbe bis zur gewünschten Stelle und begann dann unaufgefordert zu erzählen. »Du und deine Eltern habt einige Monate hier verbracht. Dein Vater war der beste Spielmann, den es im Land gab, und der Graf wollte niemand anderem mehr zuhören. Er war sogar so angetan von ihm, dass er ihm eines Tages ein edles Pferd schenkte. Das Pferd, auf dem du dann immer hier geritten bist. Eine Stute. Brun hieß sie.«
»Brun …«, wiederholte Tybbe langsam.
»Richtig. Du konntest nicht genug davon bekommen, auf ihr zu reiten«, erinnerte sich Christin lächelnd. »Dann kam der Überfall, der alles veränderte.«
»Ja, ich erinnere mich an die Flammen und die Ritter.«
»Bei diesem Überfall bist du verschwunden. Niemand hat jemals deine Leiche gefunden, deshalb ging man davon aus, du seist verbrannt oder ertrunken und abgetrieben. Dein Vater wurde nach deinem Verschwinden so sehr von Trübsal übermannt, dass es ihm unmöglich war, weiterhin als Spielmann des Grafen zu dienen und dem Frohsinn zu frönen.«
»Das kann unmöglich wahr sein, Christin. Meine Eltern sind tot. Ich bin eine Waise. Niemand aus meiner Familie hat den Angriff überlebt.«
»Hat man dir das so erzählt?«, fragte die Magd fast schon traurig.
»Ja, aber …« Tybbe traute sich die nächste Frage kaum zu stellen. »Sie sind am Leben?«, kam es bloß gehaucht aus ihrem Mund.
Christin nickte. Auch ihr schnürte es gerade die Kehle zu. »In Hamburg, deiner alten Heimat!«
Tybbe hielt dem Blick der Magd nicht länger stand und vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Ich bin … so verwirrt! Das ist alles nicht zu glauben. Warum hat man mich all die Jahre angelogen?«
»Das kann ich dir auch nicht beantworten. Leider! Vielleicht solltest du dich nach Hamburg aufmachen, Freyja.«
Jetzt ruckte ihr Kopf wieder hoch. »Freyja? Bin ich das etwa?«
»Ja, natürlich. Wie nennt man dich denn sonst?«
»Tybbe.«
»Nein, das ist nicht dein Name. Du heißt Freyja von Sandstedt. Ich fürchte allerdings, dass das alles ist, was ich dir erzählen kann.« Christin erhob sich langsam. »Ich muss jetzt zurück in die Burg. Befolge am besten meinen Rat. Geh nach Hamburg, und frage nach Walther dem Spielmann. Dann wirst du deine Familie und deine Antworten sicher finden.« Christin nahm sich ihr buntes Tuch von den Schultern. »Nimm das hier. Ich habe es einst von deiner Tante Margareta und deiner Mutter Runa bekommen. Es soll dir den Weg nach Hause weisen.«
Die beiden Frauen umarmten sich, dann brachte Christin Freyja zum Tor. »Viel Glück!«
Als die Mittagszeit verstrichen war, ohne dass Tybbe sich in der Herberge hatte blicken lassen, lief Johannes die Stufen hinab in die Gaststube. Wie erwartet fand er hier den Wirt.
»Verzeiht, aber habt Ihr meine Schwester heute schon gesehen?«
»Nein, habe ich nicht«, gab der Wirt zurück, ohne seinen Blick lange auf seinem Gegenüber ruhen zu lassen. Er war unübersehbar mit anderen Dingen beschäftigt, denn seine Gaststube war voll besetzt.
»Habt Dank«, murmelte Johannes vor sich hin, dessen anfängliche Verwunderung immer mehr einer quälenden Besorgnis wich. Er trat hinaus und stellte sich unter dem Hauswappen der Herberge auf. Hier blieb er stehen, bis er die Gewissheit hatte, dass Tybbe sich nicht nur in der Zeit vertan hatte. Irgendwann wurde klar, was er sowieso bereits ahnte: Sie war tatsächlich verschwunden. Johannes traute sich kaum weiterzudenken. Hatte Kuno ihn vielleicht reingelegt, weil er ihn durchschaut hatte? War er doch auf die Suche nach Tybbe gegangen und hatte seine Häscher möglicherweise schon längst über sie herfallen und sie zu ihrem unbekannten Ziel verschleppten lassen? Er war der Verzweiflung nahe.
Kurz zog er in Erwägung, sie in den Gassen Kiels suchen zu gehen, doch das war wenig erfolgversprechend. Wo in der Stadt hätte er damit beginnen sollen? Er bräuchte einen halben oder ganzen Tag dafür, um alle
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