Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
letztes Mal auf den Weg machen wollte, denn noch immer hegte sie die blasse Hoffnung, irgendwo einen Hinweis zu entdecken, wo Sibot als Nächstes hingezogen war.
Da Bentz und sie sich bislang eher dem südlichen und östlichen Teil der Stadt gewidmet hatten, wollte Tybbe heute im Norden und im Westen nach Hinweisen suchen. Hier gab es zahlreiche Bäcker, Schneider und Knochenhauer, die sie noch befragen konnte. Vielleicht wusste einer von ihnen mehr als die Magd der Burg.
Voller Eifer ging sie von Haus zu Haus, spähte in alle Häusernischen und durch halboffene Tore, um auch jedes alte Müttterchen und die umherlaufenden Kinder zu entdecken. Doch niemand wusste etwas. Sie hatte sich bereits vom Süden bis in den Westen vorgearbeitet, war Weg für Weg abgelaufen und hatte mit vielen Menschen gesprochen, als sie schließlich in die Holstenstraße kam. Tybbe war erschöpft. Ihre bislang erfolglose Suche dauerte nun schon den ganzen Morgen an, und ihre Zuversicht schwand mehr und mehr. Die immer kürzer werdenden Schatten auf der Erde und ein prüfender Blick in den fast wolkenlosen Himmel, wo die Sonne schon hoch über ihr stand, verrieten ihr, dass sie sich bald auf den Weg in die Herberge machen sollte, wo Bentz sie zur Mittagsstunde erwartete. Diese letzte Straße noch , sagte sie zu sich selbst, und entschied, danach die Suche entgültig aufzugeben.
Sie war noch am Anfang der Straße, in der viele prachtvolle Fachwerkhäuser mit farbigen Fensterläden standen, als sie mit einem Mal ganz deutlich Bentz’ Stimme vernahm. Tybbe stutzte, denn die Laute klangen gepresst. Fast schon war sie gewillt zu glauben, dass ihre Ohren ihr einen Streich gespielt hatten, als sie eine Bewegung zwischen zwei Häusern ausmachte. Vielleicht war es ihr Blick für genau jene Ecken, die heute von so gesteigertem Interesse für sie gewesen waren, doch ganz gleich was es war, sie erkannte Bentz trotz der Dunkelheit, die hier vorherrschte, sofort. Er war nicht allein. Vor ihm stand ein Mann. Sie redeten miteinander, wirkten fast wie Freunde, doch hatte ihr Gebaren auch etwas Feindliches an sich.
Gerade wollte sie zu ihm gehen, erfreut über den Zufall, dem es wohl gefiel, ihre Wege sich hier kreuzen zu lassen, da blieb Tybbe inmitten der Straße wie angewurzelt stehen. Ihr Mund klappte auf. Ihr Lächeln erstarb. Immer wieder verschwanden beide Männer aus ihrem Blickfeld, da die Straße voll war mit geschäftigen Kielern, die vor ihr umhergingen und die Sicht versperrten. Die Augen starr auf Bentz’ vermeintlichen Freund gerichtet, kam es über sie wie ein Schauer: Sie kannte diesen Mann! Seine auffällige Nase hatte ihn verraten.
Tybbe drückte sich in einen versteckten Häuserwinkel auf der anderen Seite der Straße. Nicht zu deutende Gefühle stiegen in ihr auf, die sie mit aller Kraft versuchte niederzukämpfen. Vollkommen verwirrt beobachtete sie von hier aus, wie die Männer ihre letzten Worte sprachen. Dann trennten sich ihre Wege. Sie selbst blieb zitternd und mit trockenem Mund zurück. Eine Weile lang schien es ihr unmöglich, sich zu rühren. Gegen ihren Willen stiegen ihr die Tränen in die Augen. Konnte es sich wirklich um jenen Mann handeln? Und woher kannte er Bentz? War alles vielleicht bloß ein seltsamer Zufall, dem sie zu viel Bedeutung beimaß? Nein! Solche Zufälle gab es nicht.
»Dieser miese Lügner«, flüsterte Tybbe tonlos vor sich hin, während sie gegen ein Gefühl der Übelkeit ankämpfte. »Und ich habe dir vertraut, ich dumme Gans!«
Wie hatte sie sich so in Bentz irren können? Er war ihr Freund! Jedenfalls dachte sie das noch vor wenigen Momenten. Ärgerlich wischte sie sich ihre Tränen von der Wange. Sie durfte jetzt nicht schwach sein, auch wenn ihr zum Heulen zumute war. Doch wohin sollte sie jetzt gehen? Sie kannte außerhalb des Klosters Buxtehude keinen einzigen Menschen – weder hier noch irgendwo sonst! Es fiel ihr nur eine Person ein, die ihr vielleicht einen Rat zu geben gewillt war, und selbst die kannte sie nicht einmal mit Namen. Trotzdem machte sie sich auf den Weg.
Tybbe war erst zögerlich gegangen, dann immer schneller. Mittlerweile hastete sie nur so durch die Straßen. Sie musste sich beeilen, denn genau jetzt erwartete Bentz sie in der Herberge. Es würde nicht lange dauern, bis er merkte, dass sie fort war, und was er dann tun würde, wusste nur der Himmel.
Vollkommen außer Atem erreichte sie ihr Ziel: die Mauern der Burg Kiel. Ohne groß zu überlegen, sprach sie den
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