Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Winkel zu durchsuchen.
Eigentlich gab es für ihn jetzt nur noch eine einzige Möglichkeit. Die Idee war ihm nach der Begegnung mit Kuno in der Einsamkeit seines Herbergszimmers gekommen. Zuerst erschien sie ihm unmöglich, dann hatte sie sich in seinem Kopf weiterentwickelt. Nun, nach banger Zeit des Hoffens und Wartens auf Tybbe, fragte er sich nicht mehr, ob sein Vorhaben überhaupt gelingen konnte, sondern rannte einfach los. Vorbei an den Häusern, die er sich mit ihr angeschaut hatte und über die Wege, die sie gemeinsam gegangen waren, bis hin zu den Toren der Burg Kiel.
Der Wächter blickte mittlerweile müde, stand die ersehnte Wachablösung für die Nacht doch kurz bevor.
Johannes jedoch war das egal – er musste eingelassen werden und zwar sofort! Koste es was es wolle! »Lass mich ein!«, sagte er darum atemlos und in barschem Ton.
Der Wächter, der zu seinem Glück nicht jener Mann war, den Johannes beleidigt hatte, blickte ihm ins Gesicht. Dann schaute er langsam an ihm herunter, bis zu seinem löcherigen Schuh. »Warum sollte ich?«
»Es ist keine Zeit für Erklärungen. Ich muss hinein. Jetzt gleich!«
»So? Musst du das? Dann solltest du dir schnell Flügel wachsen lassen und über die Mauer fliegen, du zerlumpter Kerl. Ich lasse dich ganz bestimmt nicht rein.«
Johannes hätte die Antwort kennen müssen. Trotzdem versuchte er es weiter. »Aber du verstehst nicht, es geht um eine äußerst wichtige Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet.«
»Wenn das so ist, dann tritt ein«, sagte der Wächter plötzlich einladend.
»Oh ich danke dir …«, stieß er erleichtert aus. Doch als er gerade durch das Tor rennen wollte, prallte er regelrecht gegen den massigen Körper des Wachmanns, der bloß einen Scherz mit ihm getrieben hatte. »Kapierst du’s nicht, Kerl? Du sollst verschwinden, bevor ich ungemütlich werde.« Zum zweiten Mal an diesem Tage sagte er den Satz: »Was meinst du, was ich für einen Ärger bekomme, wenn ich hier jeden durchs Tor lasse?«
Johannes schritt wieder ein Stück zurück, doch er war weit davon entfernt aufzugeben. »Bitte, höre mich doch wenigstens an. Ich habe eine Nachricht für Graf Johann II. Es geht um seinen früheren Spielmann, Walther von Sandstedt. Er war hier …«
»Walther von Sandstedt?«, wiederholte der Mann. »Diesen Namen höre ich heute schon zum zweiten Mal.«
Johannes bekam große Augen. »Zum zweiten Mal …?« Als er sah, dass der Wachmann ins Grübeln kam, wagte er zarte Hoffnung zu schöpfen.
»Warte hier. Und zwar vor dem Tor, verstanden?«
Wie befohlen rührte er sich nicht von der Stelle, auch wenn er dem Wachhabenden am liebsten hinterhergerannt wäre und ein Loch in den Bauch gefragt hätte. Warum hörte er den Namen nun schon ein zweites Mal?
Als der Wachmann zurückkam, befand er sich in Begleitung der Magd mit den auffallenden grünen Augen. »Hier ist er. Sprich du mit ihm, Christin. Ich habe zwar keine Ahnung, was er will, aber scheinbar kennt er das Mädchen, das heute hier war.«
»Tybbe war hier?«, stieß Johannes unkontrolliert aus.
»Du meinst wohl Freyja«, erwiderte die Magd und legte die Stirn in Falten.
»Du kennst sie?«
Christin antwortete nicht darauf, sondern forderte nur misstrauisch: »Komm mit mir.«
Johannes folgte der Magd, die ihn an jene Stelle auf dem Burghof führte, wo sie kurz zuvor auch mit Freyja gesessen hatte.
»Setz dich«, forderte sie ihn auf, blieb aber selbst stehen. »Und nun wirst du mir erst einmal genau erzählen, was du zu wissen verlangst.«
»Aber ich muss jetzt sofort zum Grafen, verstehst du? Ich habe keine Zeit, um dir das zu …«
»Dann solltest du besser gleich wieder verschwinden«, sagte Christin streng. »Ich habe keine Ahnung, wer du bist oder was du willst, aber wenn du es mir nicht erzählst, dann muss ich davon ausgehen, dass du nichts Gutes mit Freyja im Sinn hast. Und unter diesen Umständen werde ich dir nicht helfen. Also, warum fragst du nach Walther von Sandstedt?«
Johannes gab sich geschlagen. Man musste wahrhaft keine seherischen Fähigkeiten besitzen, um zu verstehen, dass es an Christin keinen anderen Weg vorbei gab, als jenen, den sie forderte. »Tybbe …«
»Du meinst Freyja«, berichtigte sie ihn erneut.
»Ja, Freyja, wie sie früher hieß. Sie ist … Herrgott, wo fange ich an.« Johannes atmete tief durch und begann erneut. »Ich bin hier, um dem Grafenpaar die Wahrheit über eine Sache zu erzählen, die viele Jahre zurückliegt. Vielleicht
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