Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Teil seines Mantels komplett zerschlissen. Diese Methode schien also auch keine Lösung zu sein – schließlich war es bereits Oktober, und er würde seinen Mantel die nächsten Wochen wahrlich noch brauchen.
Auf dem Weg von Paderborn nach Köln hatten sich seine Knie kaum erholen können, denn durch das stundenlange Gehen rissen die Wunden immer wieder auf. Schon bevor die Stadt überhaupt in Sichtweite war, fürchtete er sich vor dem Moment, da er wieder auf die Knie musste. Zu Recht, schließlich wusste er, dass Köln derzeit als größte Stadt des Reiches galt und hier somit die kriechend zurückzulegende Fläche jene in Paderborn bei weitem übertreffen würde.
Und tatsächlich, als Everard den Rhein mit einer Fähre überquert und die Stadt auf Knien betreten hatte, war schon die erste Berührung mit dem Boden eine grausame Marter gewesen; jede weitere Elle, die er daraufhin auf seinen geschundenen Gliedern zum Kölner Dom zurücklegen musste, kostete ihn größte Überwindung. Selbst die überwältigende Schönheit der mächtigen Stadtmauer mit ihren zwölf Torburgen und über fünfzig Wehrtürmen konnte ihn nicht trösten.
In seiner Verzweiflung versuchte Everard sich mit dem Beobachten von Menschen abzulenken, um nicht verrückt vor Schmerzen zu werden. So bemerkte er die Vielfalt um sich herum, welche sich hier in den Gassen vereinte, und zerstreute auf diese Weise tatsächlich kurzzeitig seine Gedanken. Einiges davon kannte er schon aus Hamburg, wo ebenso viele fremdartig aussehende Menschen Handel trieben, doch manches versetzte ihn in Staunen. Erstmals sah er Menschen mit fast schwarzer Haut. Andere hatten eigenartige Hakennasen. Es gab auch sehr große Frauen und Männer mit seltsam geschlitzten Augen. Jeder Zweite schien etwas Bemerkenswertes an sich zu haben, doch nicht bloß in ihrem Aussehen, auch in ihrer Sprache unterschieden sie sich. Everard hörte außer Latein, dessen auch er mächtig war, noch andere, sehr fremdartige Laute. Manche Sätze klangen weich, fast so, als bestünden sie nur aus wenigen langgezogenen Worten. Andere wiederum klangen streng und abgehackt, sodass man kaum unterscheiden konnte, ob die Menschen miteinander stritten oder sich bloß unterhielten.
Irgendwann jedoch verlor auch diese Beobachtung ihren Reiz, und der Schmerz nahm wieder überhand. Alle Versuche, sich mit inbrünstigen Gebeten abzulenken, endeten unweigerlich in schmerzerfüllten Flüchen, um dessen Vergebung er später ersuchen würde müssen. Irgendwann jedoch hörte er auf zu beten und schwieg – denn sonst wäre die Anzahl seiner Sünden beim Kölner Dom so hoch gewesen, dass er ein zweites Leben benötigt hätte, um sie abzutragen.
Everard war kurz davor aufzugeben, da erblickte er endlich den westlichen Arkadenhof, der dem Dom vorgelagert war, und hielt inne. Einen Moment zuvor war er noch so erschöpft und schmerzgepeinigt gewesen, dass er am liebsten dort, wo er war, liegen geblieben wäre, um sich auszuruhen, doch der Anblick des Doms verursachte bei ihm eine Gänsehaut am ganzen Körper. Ehrfürchtig hielt er inne und starrte auf das Gotteshaus. Seine Hände falteten sich wie von selbst vor seiner Brust. Solch ein Bauwerk hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen!
Er kroch weiter und nahm seine Schmerzen bloß noch gedämpft wahr. Auf dem arkadengesäumten Hof angekommen, bahnte er sich seinen Weg zu einem Brunnen, der genau in dessen Mitte stand. Hier wollte er rasten. Schweißgebadet nahm er seinen Pilgerhut ab und legte auch Tasche und Stab beiseite. Unverändert dümmlich staunend, blickte er nach oben. Erst eine Stimme, die eindeutig an ihn gerichtet war, holte ihn aus seiner Starre.
»Ihr seid wohl das erste Mal in Köln, oder, Vater?«
Everard drehte sich um und schaute in das Gesicht eines staubbedeckten jungen Mannes mit einer eigenartig schiefen Nase. Ein Steinmetzlehrling, wie er vermutete, denn Steinmetze gab es hier zu Hauf. »Ja, das bin ich. Ist das so offensichtlich, Bursche?«
»Vergebt mir«, erwiderte der Fremde lachend. »Das ist es in der Tat! Jeder, der den Dom zum ersten Mal sieht, schaut so wie Ihr gerade. Ich kann es verstehen, er ist wundervoll, dabei ist er noch nicht einmal fertig, doch schon jetzt kann man erahnen, wie prächtig er eines Tages aussehen wird.«
»Du scheinst etwas davon zu verstehen. Arbeitest du hier auf der Baustelle?«
»Ja … ganz recht, so ist es, Vater«, gab er etwas zögerlich zur Antwort.
Everard bemerkte das Zaudern seines
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