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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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Gegenübers nicht. Stattdessen sagte er: »Nun, wenn das so ist, dann erzähle mir etwas über den Dom. Ich bin auf Pilgerreise, und mich dürstet es danach, mehr über dieses Gotteshaus zu erfahren.« Der Geistliche hob den Zeigefinger und erinnerte: »Vergiss nicht, Gott wird dir dieses Werk der Barmherzigkeit vergüten, indem er dir einen Anteil meines Wallfahrtssegens zukommen lässt.«
    Diese Worte vernahm man oft aus dem Munde eines Pilgers, der etwas begehrte – hieß es doch, dass Gott jenen wohlgesinnt sei, die Pilgern helfen. Der junge Mann kannte diese Regel anscheinend auch und wollte sich die Gelegenheit eines so leicht erworbenen Segens offensichtlich nicht entgehen lassen. So setzte er sich dicht neben Everard, der mit dem Rücken gegen den Brunnen gelehnt saß, und begann, die Augen ebenso auf den Dom gerichtet, zu erzählen.
    »Der Arkadenhof, welcher uns hier umgibt, und der niedrigere Bau mit den zwei runden Türmen, den Ihr jetzt genau vor Euch seht, Vater, ist der noch erhaltene Westteil des alten Doms.«
    »Was ist mit dem Rest geschehen?«
    »Den kompletten Ostteil dahinter hat man vor dreiundvierzig Jahren abgerissen, um an dessen Stelle den Chor des neuen, gotischen Doms zu errichten, den Ihr rückseitig vom alten Dom sehen könnt.«
    »Was für ein Wunderwerk!«, bemerkte Everard mit ehrlichen Worten und blickte zunächst auf die provisorische Zwischenwand, die in mindestens doppelter Höhe über den Teil des alten Doms aufragte. Noch war der Chor nicht fertiggestellt, doch schon jetzt raubten einem die riesigen Aussparungen für die bald kommenden spitz zulaufenden Fenster und die gespenstisch aufragenden Außenstützpfeiler des halbrunden Baus den Atem. Wahrlich, dies war ein Haus Gottes!
    Erst nach einer ganzen Weile erinnerte er sich wieder seiner eigentlichen Pflicht. Er wandte sich dem jungen Mann zu und fragte: »Wo finde ich den goldenen Dreikönigenschrein, in dessen Inneren die Gebeine der Heiligen Drei Könige liegen?«
    »Im alten Dom, Vater. Erst nach der Fertigstellung des Chors soll der Schrein in den gotischen Dom überführt werden.«
    »Hab Dank, Junge.« Everard rappelte sich auf die schmerzenden Knie und schlug ein Kreuz über den Lehrling. »Gott segne dich und behüte dich. Und nun gehe in Frieden.«
    Das ließ sich der Bursche nicht zweimal sagen. Wie vom Teufel gejagt, sprang er auf die Füße und schoss grußlos davon.
    Everard schüttelte verwundert den Kopf, achtete dann aber nicht mehr auf ihn. Sein Ziel war nah, und er konnte es nicht mehr erwarten, endlich wieder aufrecht gehen zu dürfen. Schon jetzt nahm er sich vor, die Nacht in einer ordentlichen Herberge zu verbringen und sich vorher in einer Schenke den Bauch vollzuschlagen. Die Münzen, die er von Graf Gerhard II. für die Erfüllung der Pilgerreise in dessen Namen bekommen hatte, reichten allemal aus, um sich ab und zu eine dicke Suppe mit Fleisch darin zu gönnen.
    Gerade griff er nach seinem Hut und dem Stab, als es ihn durchfuhr wie ein Blitz. Wo war seine Tasche? Eben noch hatte sie unter seinem Hut gelegen, nun konnte er sie nirgends mehr entdecken.
    »Nein, bitte nicht. O nein, das darf einfach nicht wahr sein …«, murmelte Everard verzweifelt vor sich hin, während er wie ein Verrückter jeden verscheuchte, der um den Brunnen stand. Auf allen vieren kroch er um die Borne herum, seinen Blick stets hektisch suchend auf den Boden gerichtet. Dann wurde es ihm klar: Der vermeintliche Steinmetzlehrling war in Wirklichkeit ein Dieb gewesen, zu dessen Vorgehen es gehörte, Pilger mit Geschichten über den Dom abzulenken!
    »Verdammter Hurensohn!«, entfuhr es ihm etwas zu laut, worauf sich viele Pilger zu ihm umdrehten und ihn auf den heiligen Platz hinwiesen, auf dem er sich befand.
    »Was erlaubt Ihr Euch!«
    »Also bitte, dies ist ein Ort der Andacht!«
    »Schscht …!«
    Everard jedoch erwiderte nichts. Mutlos ließ er sich gegen den Brunnen sinken und schloss die Augen. Wie sollte er jetzt die Reise nach Rom bewältigen? Ohne Münzen!

5
    Eine Gruppe von Jungen zwischen zehn und fünfzehn Jahren schlich die abschüssige Straße Kattrepel östlich des Doms entlang. Sie gingen gebückt und schauten sich nervös um. Immer wieder stießen aus kleinen Seitenstraßen lautlos neue Jungen hinzu, bis sie zweiundzwanzig an der Zahl waren. Eigentlich müssten sie alle noch in ihren Betten liegen, doch hatte es ein jeder von ihnen geschafft, sich lautlos und unbemerkt hinauszuschleichen.
    Die Sonne war noch

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