Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
nicht über die Dächer der Fachwerkhäuser gestiegen, und es war so kalt, dass kleine weiße Rauchwolken aus ihren Mündern aufstiegen. Gemeinsam traten sie durch das Hopfentor auf die Reichenstraße. Hier war der Ort des Geschehens – der Ort der Rache. Hier wollten sie ihnen ein für alle Mal die Mäuler stopfen. Nach diesem Morgen, dessen waren sich die Jungen sicher, würde diesen großtuerischen Nacheiferern das Lachen gründlich vergehen!
Dann war es soweit. Sie konnten ihre Feinde hören. Die Marianer hielten inne.
Zeitgleich, in der ehemaligen Neustadt, versammelten sich die Herausforderer. Von der Cremon- und der Grimm-Insel her strömte die Gruppe der Nikolaiten zusammen, bis sie vollzählig waren. Im Verbund überschritten sie danach die Trostbrücke, gingen am Rathaus vorbei und bogen rechts in den Ness ein. Keiner sagte etwas; sie alle wussten um ihr heutiges Ziel, Worte waren nicht mehr nötig. Es wäre nicht der erste Kampf, doch es sollte der entscheidende sein, damit die Frechheiten der Petri-Kirchspiel-Bewohner endlich ein Ende nahmen. Es wurde Zeit, dass sie die Marianer Respekt lehrten, schließlich war selbst der Papst auf ihrer Seite! Gott konnte eine Niederlage also gar nicht wollen.
Sie hatten erst wenige Schritte auf der Reichenstraße zurückgelegt, als sie ihre Gegner am Ende der langen Straße erblickten.
Auge in Auge mit dem Feind tat jeder der Jungen einen Moment lang das Gleiche. Stumm zählten sie die Köpfe ihrer Gegner, um kurz danach festzustellen, dass die Marianer in der Überzahl waren. Zweiundzwanzig gegen siebzehn.
»Sie haben fünf mehr, Othmar«, bemerkte ein Vierzehnjähriger und schaute etwas unsicher zu dem ungekrönten Anführer.
»Machst du dir jetzt etwa in die Hose? Dann geh wieder nach Hause ins Bett, du Mädchen«, erwiderte dieser grimmig.
Der Getadelte wurde rot. »Ich bin kein Mädchen. Ich will kämpfen.«
»Dann reiß dich zusammen, Mann«, sprach ein anderer aus, was sonst alle dachten.
»Seid ihr bereit?«, fragte Othmar entschlossen und schaute in die Runde. Er selbst verspürte keine Angst. Um keinen Preis wäre er umgekehrt, selbst dann nicht, wenn dort drüben doppelt so viele Jungen gestanden hätten wie auf seiner Seite. Ein letzter Blick in die Augen der Übrigen genügte, um sicherzugehen, dass sie ebenso dachten wie er. »Na, dann wollen wir die Marianer mal nicht warten lassen und ihnen eine Lektion erteilen.« Ein lauter Ruf aus seiner Kehle war das Zeichen. »Angriff!«
Nach diesen Worten stürmten die Jungen los.
Auch die Burschen am östlichen Ende der Reichenstraße setzten sich jetzt in Bewegung. Wild brüllend und mit beherzten Schritten ließen sie die ersten der prächtigen Kaufmannshäuser der Reichenstraße hinter sich. Dann, kurz vor dem Aufeinanderprallen, spannten sie ihre Steinschleudern und zielten erbarmungslos auf ihre Gegner. Die ersten Schreie der Getroffenen wurden laut, danach rannten sie ineinander.
Jeder Junge schnappte sich den Gegner, der ihm am nächsten stand – ungeachtet dessen, ob die eigenen Kräfte auch wirklich mit denen des Gegenübers messbar waren, schlugen sie mit geballten Fäusten zu. Schnell trug der Erste von ihnen eine Platzwunde davon. Der Hass auf die Schüler des anderen Kirchspiels war einfach zu groß und schwelte schon zu lange, als dass sie diese Gelegenheit zur Rache jetzt ungenutzt verstreichen lassen konnten. Jedes Mitleid war ihnen fremd, hatten ihre Gegner doch nicht weniger verdient, als dass ihnen gehörig das freche Maul gestopft wurde.
Es dauerte nicht lang, da machte es sich bemerkbar, dass die Marianer in der Überzahl waren. Nachdem die ersten Nikolaiten in die Flucht geschlagen waren, nahmen sich immer zwei der Domschüler einen gegnerischen Jungen vor. Doch da die Nikolaiten älter waren und mehr Kraft besaßen, flüchteten auch bald ein paar Marianer.
Der Kampf währte erst wenige Momente, da öffneten sich die ersten Luken der Häuser in der Reichenstraße. Verärgerte Bürger, die unsanft aus dem Schlaf gerissen worden waren, brüllten hinaus.
»Was ist denn das für ein Lärm?«
»Sofort auseinander, ihr seid wohl nicht mehr ganz bei Sinnen!«
»Was treibt ihr Burschen da in aller Herrgottsfrühe?«
Doch die prügelnden Schüler ließen sich nicht beirren. Natürlich hatten sie schon vorher gewusst, dass ihr Kampf hier nicht lange unbemerkt bleiben würde; genau das war es ja auch, was sie gewollt hatten. Seit Jahren schon spalteten die Zwistigkeiten um Hamburgs
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