Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Besinnungslosen. »Wir müssen ihn schnell von hier wegbringen. Kommt, schaffen wir ihn erst einmal in den Hühnerstall hinter unserem Kaufmannshaus«, schlug er vor.
In diesem Moment riss ein wütend dreinschauender Mann seine Haustür auf. Gleich danach noch einer auf der anderen Straßenseite. Das unsanfte Wecken durch die kämpfenden Jungen hatte deren Stimmung ohne Frage beeinflusst. Ein Blick auf die Straße genügte, um die drei übrigen Übeltäter zu erfassen.
»Na wartet, ihr Burschen. Euch werde ich zeigen, was es heißt, mich aus meinem Schlaf zu reißen«, rief der eine.
»Ihr kommt mir nicht davon«, drohte der andere, der im gleichen Moment auch schon losstapfte – in seiner Rechten einen ledernen Gürtel schwingend.
»Los, verschwinden wir!«, rief Othmar seinem Freund zu, worauf dieser Ehlers Arme und er selbst dessen Beine packte. So schnell sie konnten, trugen sie den Verletzten davon.
Es war Glück, dass ihr Verfolger in seiner Wut ohne Schuhe unterwegs war und von den kleinen spitzen Steinen unter seinen Fußsohlen daran gehindert wurde, ernsthaft die Verfolgung aufzunehmen.
Das Brüllen hinter ihnen wurde leiser und leiser, als sie in die verwinkelten Gassen flohen, die sie zu ihrem Ziel auf der Grimm-Insel brachten.
Laut hallten Godekes Schritte auf den gemusterten Tonfliesen des Rathauses wider. Seine Füße trugen ihn geschwind zum hölzernen Gehege, in dessen Innerem der Rat tagte. Als er eintrat und sein Blick mal wieder auf die kostbaren, hölzernen Schnitzereien der Bänke und die leuchtenden Farben der Fenster fiel, begann sein Herz abermals wie wild zu klopfen. Nur mit Mühe konnte er sich dazu zwingen, sich zu beruhigen. Er wollte nicht aufgeregt sein, und er wollte schon gar keinen roten Kopf bekommen, doch die Unglaublichkeit der Wende seines Schicksals übermannte ihn noch immer von Zeit zu Zeit. Sie war auch der Grund, warum er zu jeder Ratssitzung einige Minuten zu früh erschien.
Er musste sich erst an sein neues Amt gewöhnen. Noch kam es ihm unwirklich vor, dass er nun tatsächlich ein Ratsmann war – hatte er dieses Amt doch erst seit wenigen Wochen inne. Gewissermaßen war es ja auch ungewöhnlich, dass man ihm diese Würde schon jetzt zugesprochen hatte, und die Umstände, welche dazu geführt hatten, waren es allemal!
Nachdem die Ränke Johannes’ vom Berge aufgeflogen waren, und die Ehre von seiner zu Unrecht in Ungnade gefallenen Familie durch ein paar glückliche Zufälle auf der letzten St.-Veitsmarkt-Versammlung wieder hergestellt worden war, hatte sich alles zum Guten gewandt. Der Bürgermeister Willekin Aios wollte seinen Fehler wieder bereinigen und hatte Godekes Vater seinen zuvor abgesprochenen Platz im Rathaus erneut angeboten. Doch dieser hatte abgelehnt und war stattdessen auf die Riepenburg gezogen, um das Angebot Eccard Ribes anzunehmen.
Der Rat hatte daraufhin jenen Entschluss gefasst, der Godekes Leben verändern sollte: Weil den von Holdenstedes so unsagbares Unrecht angetan worden war und Albert seinen Platz auf dem Ratsgestühl ablehnte, bot man seinem erst zweiundzwanzigjährigen Sohn die Möglichkeit, Mitglied des Rates zu werden. Auch wenn Godeke noch drei Jahre zum Mindesteintrittsalter fehlten und auch wenn die Wahlen der Ratsherren eigentlich immer am zweiundzwanzigsten Februar stattfanden und nicht mitten im Jahr, waren alle Ratsherren einstimmig dafür gewesen.
Godeke hatte eingewilligt und wurde feierlich in der Mitte der Edlen aufgenommen. Nun war er das jüngste Mitglied der Electi, das es jemals gegeben hatte, und seine anfängliche Amtszeit sollte sogleich von wichtigen Entscheidungen gekrönt sein.
»Guten Morgen, junger Ratsherr«, begrüßte ihn sein Sitznachbar wie üblich mit einer übertriebenen Verbeugung.
Godeke störte sich weder an der Anrede noch an der albernen Verbeugung. Schließlich war beides viel eher als Kompliment gemeint, denn als Beleidigung. »Guten Morgen, Christian. Was machst du denn schon so früh hier?«
»Das frage ich mich ehrlich gesagt auch. Eigentlich wollte ich bis zum letzten Moment in meiner Bettstatt bleiben …!« Der acht Jahre ältere Ratsherr ließ sich neben Godeke auf die Bank fallen und gähnte. Er sah übernächtigt aus und gab sich keine Mühe, das zu verbergen. Nachdem er sich ausgiebig gestreckt hatte, rieb er sich das Gesicht und schüttelte daraufhin den Kopf. Seine Augen blieben jedoch rot unterlaufen – ein gewohntes Bild für alle Herren des Rates.
»Was ist schon wieder
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