Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
passierte das Rathaus und überquerte die Trostbrücke. Wenige Schritte später stand er auch schon vor dem Hause Godonis.
Wie alle der fünfzig Grundstücke an der Straße Neue Burg, wies auch dieses eine dreieckige Form auf, das am Anfang spitz zulief und am Ende zum Nikolaifleet hin breiter wurde. Die Häuser standen erhöht, waren auf dem Ringwall der früheren Burg errichtet, die es schon lange nicht mehr gab und von der die Straße ihren Namen hatte. Hier waren sie geschützt vor Hochwasser und Gezeiten und thronten geradezu über der Stadt.
Godeke war sich sicher, dass Christian noch immer schlief und seine Kammer bisher nicht einmal verlassen hatte. Mit genau jener Erwartung klopfte er an.
Die Magd musste quasi neben der Tür gestanden haben, denn sie öffnete sofort. »Was kann ich für Euch … oh, verzeiht Dominus. Ihr seid es.«
»Schon gut, Marie«, sagte Godeke und trat ein. Während er seinen Mantel ablegte, forderte er sie auf: »Bitte wirf deinen Herrn aus der Bettstatt. Ich muss mit ihm sprechen. Ich warte in der Stube.«
Die Magd ließ dem jungen Ratsherrn gegenüber keine Widerrede verlauten. Sie wusste, dass er ihren Herrn gut kannte. Beiden war klar, dass es noch einen Moment lang dauern würde, bis Christian Godonis seinen Besuch empfangen konnte. »Ihr kennt ja den Weg, Dominus. Ich gehe meinen Herrn jetzt gleich wecken.«
»Danke.«
Marie ließ Godeke zurück und ging ins obere Stockwerk des großzügigen Kaufmannshauses zur Tür des Schlafgemachs ihres Herrn. Sie klopfte – zunächst leise, dann lauter. »Herr, Herr, könnt Ihr mich hören?« Nichts. Innerhalb der Kammer war es totenstill. Die Magd schüttelte den Kopf. Es war bereits spät am Tage, und Christian Godonis lag noch immer im Bett. Wie konnte ein Mann seines Standes nur derart nachlässig leben?, fragte sich die Magd nicht zum ersten Mal. Schon bevor sie den Entschluss gefasst hatte, einfach in die Kammer zu treten, wusste sie, was sie dort drinnen erwarten würde.
Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter und versuchte, die Tür aufzuschieben. Wenn nicht ein Berg voller Kleider genau davorgelegen hätte, wäre ihr das sicher auch geräuschlos gelungen, doch so musste sie sich ächzend dagegenstemmen. Erst nach einiger Anstrengung konnte sie eintreten. Der unverwechselbare Geruch von Wein und einer Liebesnacht schlug der Magd entgegen und wurde schlimmer, je näher sie dem Bett kam. In der Kammer war es dunkel, doch das Licht reichte aus, um zu sehen, dass überall auf dem Boden Sachen herumlagen – die ihres Herrn und die einer Frau.
Und da lagen sie: Dominus Christian und die zweite Magd des Hauses, Hannah. Nackt und schlafend.
Marie trat an die Seite ihres Herrn und versuchte es zunächst mit Worten. »Herr, wacht auf. Es ist jemand für Euch gekommen.« Als sich wieder nichts regte, überwand sie ihre Scheu und berührte ihn am Arm. »Herr, so wacht doch auf!«
Christian schreckte hoch und blickte verwirrt umher. Dann drangen die Worte der Magd zu ihm durch. »Wer ist da, Marie?«
»Es ist Dominus Godeke, Herr.«
Ohne ein weiteres Wort stand Christian auf, nackt wie er war, und griff sich die Kleidung vom Boden.
Die junge Magd stieß einen kurzen Schrei der Entrüstung aus, hinsichtlich der nun entblößten und umherschwingenden Mitte ihres Herrn, und wandte sich abrupt ab. Dieser schien sich an ihrer Scham nicht im Geringsten zu stören, nur einen Wimpernschlag später war er auch schon aus der Kammer verschwunden.
Marie fing sich schnell wieder. Es gab schließlich viel zu tun, wie jeden Tag. Entschlossen riss sie die hölzernen Luken auf und ließ auf diese Weise frische Luft in die Kammer – sehr frische Luft!
»Bist du verrückt geworden, Marie?«, meldete sich Hannah aus dem Bett zu Wort. »Es ist fast Winter, falls es dir noch nicht aufgefallen ist. Warum lässt du die Kälte rein? Schließ sofort die Luke!«
»Ich denke überhaupt nicht daran«, erwiderte Marie trotzig, die die zweite Magd des Hauses schon häufiger aus dem Bett ihres Herrn geschmissen hatte, und warf einen Haufen soeben aufgesammelter Kleider nach ihr. »Steh gefälligst auf, Hannah! Was denkst du dir eigentlich? Dass du bis mittags hier im Bett liegen kannst, während ich die ganze Arbeit mache?«
Hannah schob die Kleidung achtlos vom Bett, setzte ein schiefes Lächeln auf und wickelte sich in die zerknitterten Laken der Bettstatt. In aller Ruhe begann sie ihr Haar zu entwirren und sagte stichelnd: »Worüber regst du dich
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