Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
übliche Frage an alle Ratsherren: Gibt es etwas, das nach Eurem Erachten Vorrang hat? So sprecht es jetzt an.«
Godeke schaute jeden der Ratsherrn nacheinander an, um festzustellen, ob einer von ihnen etwas zu sagen hatte. Als er neben sich ein Flüstern vernahm, das sich verdächtig anhörte wie »Ja, es gibt etwas, das Vorrang hat. Mein Schlaf!«, versetzte er Christian einen Tritt, der ihn augenblicklich zum Schweigen brachte.
Plötzlich erhob sich der Ratsnotar Johann Schinkel. »Bürgermeister Aios, ich muss etwas zur Sprache bringen, was mir erst auf dem Weg ins Rathaus angetragen wurde. In den heutigen Morgenstunden soll es wieder zu einem Schuljungenkampf zwischen den Marianern und den Nikolaiten gekommen sein. Soweit man mir berichtet hat, ist einer der Jungen durch eine Steinschleuder sogar schwer verwundet worden.«
Willekin Aios schaute einen Moment lang verwirrt. »Ist das wahr? Warum weiß ich nichts davon? Wo hat der Kampf stattgefunden?«
»In der Reichenstraße, direkt vor meinem Haus«, antwortete Christian Godonis anstelle von Johann Schinkel, der schon angesetzt hatte, etwas zu sagen.
»Wisst Ihr etwas über den verletzten Jungen?«, fragte Johann Schinkel den Ratsherrn.
Godeke schaute sofort mit einem scharfen Blick zu Christian, worauf dieser sich seine sonstigen Frechheiten verkniff und bloß erwiderte: »Nein, Ratsnotar, ich kann Euch leider nichts darüber sagen.«
Johann Schinkel wandte sich wieder an den Bürgermeister. »Wir können nicht mehr wegsehen und so tun, als würde uns die ganze Sache nichts angehen. Wir müssen etwas unternehmen.«
»So? Was wollt Ihr denn unternehmen?«, fragte Hinric von Cosvelde mit einem angriffslustigen Unterton.
Der Angesprochene drehte sich um. Als er den hochmütigen Blick des Neustädter Ratsherrn auffing, verengten sich seine Augen zu kleinen Schlitzen. »Habt Ihr mir etwas zu sagen, von Cosvelde? Sprecht ruhig offen!«
»Wenn Ihr es wünscht, dann sage ich nochmal, was Ihr in der Vergangenheit schon mehrfach aus meinem Munde vernommen habt. Ich klage Euch und die Anhänger des Domkapitels der Scheinheiligkeit an! Ihr, genau wie alle anderen Domherren, versteckt Euch doch hinter dem Scholastikus und lasst ihn gewähren. Somit seid Ihr es auch, der die Probleme erst hervorgerufen habt.«
Nun war es um jede Ruhe geschehen. Der alte Streit um die zwei Schulen drohte wie so oft zum Hauptthema der Sitzung zu werden. Fast schien es aussichtslos, diesen Zwist jemals gänzlich beizulegen – und schon gar nicht heute!
»Was für eine Unverschämtheit von Euch!«, wetterte Johann Schinkel zurück. »Wenn die aufständischen Bewohner der Neustadt nicht so überheblich wären, das Alleinrecht des Domkapitels zur Errichtung von Schulen anzufechten, dann gäbe es dieses Problem doch gar nicht.«
»Pah, Ihr meint wohl, wenn das Domkapitel anerkennen würde, dass selbst der Heilige Vater in Rom eine Schule der Grammatik im Nikolaikirchspiel billigt, dann hätten wir das Problem nicht …!«
»Meine Herren, meine Herren …«, ging der Bürgermeister plötzlich dazwischen. »Ich denke, dass wir diese Debatte schon mehrfach ausführlich geführt haben, ist es nicht so? Viel wichtiger erscheint es mir herauszubekommen, wie es dem verletzten Jungen geht und welche Umstände zu diesem erneuten Kampf geführt haben.«
»Recht habt Ihr, Bürgermeister«, pflichtete Hartwic von Erteneborg ihm bei. »Außerdem haben wir heute Dringlicheres zu besprechen und sollten vorankommen.«
»So ist es«, stimmte auch Olric Amedas den Männern zu.
Aios nickte den Schlichtern dankbar zu. »Ich würde vorschlagen, dass einer von uns Ratsherren die Einholung dieser Erkundigungen übernimmt und uns allen bei der nächsten Ratssitzung davon berichtet. Mein Gefühl sagt mir, dass unser neuestes Mitglied genau der Richtige für diese Aufgabe ist. Was meint Ihr, Godeke von Holdenstede? Kann ich Euch mit diesem Auftrag betrauen?«
Godeke fühlte sich, als hätte ihm einer mit der flachen Hand auf die Stirn geschlagen. Einen kurzen Moment lang konnte er nichts sagen. Dann aber schoss es nur so aus ihm heraus: »Natürlich dürft Ihr mir diese Aufgabe übertragen … also, mir diesen Auftrag geben … es ist mir eine Ehre … Ihr könnt Euch darauf verlassen, dass ich …«
Nun war es Christian, der seinem Freund einen Tritt verpasste. Er verfehlte seine Wirkung nicht; Godeke hörte auf zu plappern.
»Gut«, sagte Willekin Aios lächelnd, dem die Aufregung Godekes über seinen
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