Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
war, aber er wollte nun endlich zur Sache kommen.
Der ehemalige Ratsherr verstand und wandte sich von der schönen Aussicht ab. Langsam umrundete er sein Schreibpult und bot Godeke und Christian einen Sessel an. Nachdem alle Platz genommen hatten, forderte er Godeke auf: »Nun, dann erzählt mir etwas, das ich noch nicht weiß, Dominus. Ich bin überaus gespannt, was der Grund eures Besuchs ist.«
»Der Grund ist leider ein unerfreulicher. Habt Ihr schon gehört, dass es wieder einen Schuljungenstreit gegeben hat?«
Dagmarus’ Miene wurde ernst. »Nein, das habe ich nicht. In der Tat ist das ein unerfreulicher Umstand. Ich gehe allerdings davon aus, dass meine eigene Meinung zur Sache der zweiten Schule nicht weiter von Belang ist. Ihr werdet wohl kaum gekommen sein, um ein und dieselbe müßige Debatte über jenes Thema mit mir zu führen, oder? Darum sagt mir, wie kann ich Euch helfen?«
Godeke brauchte tatsächlich nicht nach der Meinung des alternden Kaufmanns zu fragen. Selbstverständlich war er, als Bewohner des Nikolai-Kirchspiels, auf der Seite der Nikolaiten. »Lasst mich offen mit Euch sprechen, Nannonis. Bei der gestrigen Auseinandersetzung hat es angeblich einen Verletzten gegeben, und Ehler Schifkneht ist seither verschwunden. Ich vermute einen Zusammenhang. Euer Sohn Othmar wurde von Albus Ecgo inmitten des Schülerkampfes gesehen – deshalb sind wir im Namen des Rates hier. Können wir mit Othmar sprechen?«
Nach diesen Worten bildete sich eine steile Falte zwischen des Grauen Augen. »Othmar wurde von Albus Ecgo während des Straßenkampfes gesehen?«, wiederholte er ernst. »Überaus interessant. Bis jetzt bin ich nämlich davon ausgegangen, dass er sich in der Nikolaischule befindet, wie jeden Tag. Aber das war offensichtlich ein Irrglaube.« Der ehemalige Ratsherr wirkte verärgert. »Was soll ich sagen? Wie Ihr selbst seht, habe ich gerade keine Antwort auf die Frage, wo sich mein Sohn befindet. Aber seid gewiss, meine Herren, dass ich das herausfinden werde und dass der Junge seine Strafe bekommen wird!«
Natürlich war das nicht die Antwort, die sich Godeke und Christian erhofft hatten, doch sie konnten ja schlecht von Dagmarus verlangen, dass er sie bewirtete, bis Othmar sich hier blicken ließ.
Christian erhob sich als Erster. Er konnte es anscheinend kaum erwarten, das Haus zu verlassen. »Habt Dank, Nannonis.«
Godeke erhob sich ebenfalls. »Und solltet Ihr etwas über den verletzten Jungen erfahren, lasst es mich bitte wissen.«
»Selbstverständlich, Dominus.«
Die drei Männer gingen gemeinsam hinunter und verabschiedeten sich voneinander. Nachdem die Tür geräuschvoll ins Schloss gefallen war, standen Godeke und Christian eine Weile lang ratlos vor dem Kaufmannshaus herum. Der Besuch bei der Familie Nannonis war weniger erfolgreich gewesen als erhofft. Nun wussten sie nicht, wie sie weiter vorgehen sollten. Die Freunde fanden es gleichermaßen unbefriedigend, unverrichteter Dinge nach Hause gehen zu müssen, aber was blieb ihnen für eine Wahl?
Als sie sich gerade aufmachen wollten, bemerkte Christian plötzlich eine Bewegung im Augenwinkel. Er ergriff Godekes Arm und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Auf Zehenspitzen schlichen die Männer um einen Baum herum und rissen ruckartig einen Ast zur Seite. Vollkommen unerwartet blickten sie in das nicht minder erstaunte Gesicht von Othmar Nannonis, der nur drei Mannslängen von ihnen entfernt aus einem kleinen Hühnerstall trat.
Beim Anblick der Ratsherren froren Othmars Bewegungen ein. Anscheinend hatte er die Unterredung der beiden Männer durch das geöffnete Fenster belauscht, sich nach der Verabschiedung in Sicherheit gewähnt und daraufhin beschlossen, aus dem Bretterverschlag zu treten. Nun starrten sie einander an. Alle wussten, was der jeweils andere dachte. Lange Umschweife waren also überflüssig.
»Wo ist Ehler?«, fragte Godeke streng, obwohl er natürlich schon eine Ahnung hatte.
Nach einem weiteren Moment des Zögerns zeigte der Angesprochene mit seinem sichtlich lädierten Kinn auf den Schuppen. »Er ist hier.« Jeder Widerstand war in diesem Moment gebrochen.
Mit flinken Schritten erreichte Godeke die Hütte und trat ein. Was er dort sah, hatte er nicht erwartet.
Sein elfjähriges Mündel saß blutverkrustet aber wach in einer Ecke. Neben ihm hockte ein anderer Junge, den Godeke nicht kannte und der ebenso einige Schürfwunden aufwies.
»Wusste ich es doch! Was habt ihr euch nur dabei gedacht, ihr
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