Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
viel eher die Edelste und die mit der reinsten Anmut und der erhabensten Haltung.
Die drei Frauen schritten zum Kamin, dessen Wärme ihnen wohlige Schauer über den Rücken jagte. Hier ließen sie sich nieder. Die auf diese Weise wortlos vertriebenen Damen blickten etwas verstimmt, da es den einzigen beiden nichtadeligen Frauen erlaubt wurde, sich zur Gräfin zu setzen.
Diese jedoch ignorierte die Blicke und holte ein fast fertiges hellblaues Kleidchen aus einer Truhe hervor. Es war eindeutig für die gräfliche Tochter Mechthild gemacht, die genauso alt war wie Freyja. Mit kritischem Blick beäugte Margarete von Dänemark eine Stelle am Ausschnitt, an der der Anfang einer besonders komplizierten Stickerei zu erkennen war, und sagte zu Runa: »Das ist die Handarbeit, die ich meine. Ich komme an dieser Stelle einfach nicht weiter. Schon fünfmal habe ich sie wieder geöffnet und von vorne angefangen. Ihr seid so viel besser mit feinen Handarbeiten, schaut es Euch bitte einmal an.«
Runa nahm das Kleid entgegen und hielt es dichter ans Feuer, um besser sehen zu können. Sie fand den Fehler sofort und sagte: »Genau dieses Muster habe auch ich gerade für ein Kleidchen verwendet. Ich zeige es Euch, dann könnt Ihr sehen, wie diese Stelle zu lösen ist.« Runa verließ kurz den Raum, lief zu ihrer und Walthers Kammer und kam zurück mit einem roten Kleid, das Freyja bald tragen sollte. Als sie es zeigte, machten die Frauen große Augen, so vollkommen war es. Kein Wunder. Runa liebte Handarbeiten und wagte sich mit den Jahren an immer schwierigere Muster. Freyjas Kleid stand dem für Mechthild somit in nichts nach. »Seht Ihr, so müsst Ihr den Faden führen«, sagte sie zur Gräfin und wies mit ihrem kleinen Finger auf eine bestimmte Stelle.
Nach einer Weile stieß die Fürstin aus: »Ha, jetzt erkenne ich meinen Fehler«, und fingerte sofort an ihrem eigenen Stickmuster herum. Dann hielt sie das unfertige Werk mit ausgestreckten Armen weit von sich weg und betrachtete es. »Nun bleibt noch eine Frage offen …«
»Was meint Ihr?«
Statt zu antworten, rief die Gräfin: »Freyja, Mechthild, kommt zu mir!«
Folgsam ließen die Mädchen, die in der Mitte der Kammer auf dem Boden mit hölzernen Pferden spielten, davon ab und taten, was ihnen aufgetragen wurde. Mit einem Knicks stellten sie sich vor Margarete auf, die ohne weitere Worte erst der einen und dann der anderen das fast schon leuchtend hellblaue Kleid anhielt. Sie legte den Kopf schief und überlegte, nahm Freyjas dicke, kastanienbraune Zöpfe und legte sie dem Mädchen über die Schulter. Das Gleiche tat sie mit den helleren Haaren ihrer eigenen Tochter. Jetzt wandte sie sich wieder an Runa, die ihr aufmerksam zugeschaut hatte. »Was meint Ihr? Ich finde Mechthild sieht blass in dieser Farbe aus. Freyja steht sie besser, oder?«
»Hmm«, raunte Runa mit gerunzelter Stirn. Auch wenn es unüblich war, Kritik an einer Gräfin zu üben, wusste sie, dass diese genau das an ihr schätzte – ihre Ehrlichkeit. Drum sagte Runa: »Ja, das stimmt. Freyjas Haar- und Augenfarbe passt besser zu diesem Blau.«
»Dann ist dieses Kleidchen wohl eher was für Eure Freyja. Mechthild soll ja schließlich nicht kränklich aussehen«, stellte die Gräfin nachdenklich fest. »Ich hätte es wissen müssen. Vor einem Jahr habe ich ihr schon einmal etwas Hellblaues genäht, und da ist es mir bereits aufgefallen. Aber ich liebe diese Farbe nun einmal …«
Auf diese Worte Margaretes machte die kleine Mechthild ein trauriges Gesicht. »Aber das ist doch mein Kleid, Mutter. Ihr habt es doch für mich gemacht.«
»Aber Liebes, wenn es dir nun mal nicht gut zu Gesichte steht?«
Auch Runa versuchte das Kind zu beruhigen, deren unglücklicher Blick ihr Herz erweichte. »Oh, Mechthild, sei nicht traurig. Gott hat uns eben alle unterschiedlich erschaffen. Jeder hat andere Haare, andere Augen, andere Haut. Komm mal her zu mir.«
Artig kam das Mädchen herüber.
»Schau mal, was hältst du denn von einem roten Kleid?« Während sie das fragte, hielt sie dem Mädchen das fast fertige Kleid an. »Es ist zwar noch nicht ganz vollendet, aber ich denke, in zwei oder drei Tagen kannst du es tragen.«
Mechthilds Augen strahlten wieder.
»Aber Mutter …«, protestierte Freyja plötzlich.
Runa schaute vielsagend zu ihrer Tochter hinüber. »Meine liebes Kind, sollst du etwa zwei Kleider bekommen und Mechthild keines?« Der tadelnde Ton in Runas Stimme ließ Freyja umgehend den Kopf
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