Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
war es doch für ein schönes Gefühl, von diesem Kind so bedingungslos geliebt zu werden – ein Gefühl, das Walther selbst so nie gekannt hatte. Seine Kindheit in Friesland bei dem Dorfpfarrer Everard in Sandstedt war geprägt gewesen von Armut und Gebet. Er wollte sich nicht beschweren, hatte es ihm doch eigentlich an nichts gefehlt; das heißt, an nichts außer der Wahrheit! Schon früh erfuhr er, dass er ein Findelkind war. Ein Verstoßener. Ein Ungewollter. Bereits kurz nach seiner Geburt hatte der Pfarrer ihn bei sich aufgenommen. Woher er wirklich kam, erfuhr er niemals. Immer dann, wenn er seinen Ziehvater darauf ansprach, erwiderte dieser bloß: Gott hat dich eines Tages zu mir geführt! Das ist alles, was es dazu zu sagen gibt. Irgendwann hatte Walther aufgehört zu fragen, doch von Zeit zu Zeit hallte der Gedanke über seine Herkunft in seinem Kopf wider. Heute war er sich sicher, dass er niemals Antwort auf diese Frage erhalten würde, und eigentlich war es ja auch ganz gleich, woher er kam. Bloß die Neugier quälte ihn nach wie vor und ließ sich einfach nicht abschütteln. Doch tief in sich wusste er, dass er aufhören sollte darüber nachzudenken. Was hatte das noch für einen Sinn? Sein Leben war jetzt ein anderes, und darüber war er froh.
Walther ging zurück zu Runa und Margareta. Seine verworrenen Gedanken lichteten sich, und er warf einen letzten Blick auf Freyja. Das Mädchen hatte eine Katze entdeckt, die sie jetzt hingebungsvoll streichelte. Stolz blickte der Spielmann auf seine Tochter, deren Wesen dem seiner geliebten Frau so ähnlich war, obwohl sie äußerlich weder ihm noch ihr glich. Dann wandte sich Walther den beiden Frauen zu, die sich schon eine Weile angeregt unterhielten. Seit Eccard die Burg verlassen hatte, gab es zwischen ihnen nur noch ein Thema: die Hinrichtung.
»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass Johannes vom Berge endlich in die Hölle geschickt wird. Wenn es nach mir geht, könnte es heute schon so weit sein.«
Runa griff nach der kleinen geschwungenen Muschel, die mit einem ledernen Band locker um Thidos Hals gebunden war. Sie gehörte einst Thiderich, dem er seinen Namen zu verdanken hatte.
Auch Walthers Blick fiel nun auf die Muschel. »Ich war dabei, als Thiderich sie an den endlosen Stränden Butjadingens, auf der Suche nach Albert, gefunden und eingesteckt hat. Kaum zu glauben, dass das schon zweiundzwanzig Jahre her ist.«
»Ja, es ist schon lange her«, sagte Runa mit trauriger Stimme, während ihr Bilder von Zeiten in den Sinn kamen, da sie alle noch vereint gewesen waren.
Margareta legte Runa eine Hand auf den Arm. »Nach der Hinrichtung werden wir mit all dem abschließen können.«
»Es möge so sein, wie du es sagst, liebe Schwester. Ich hoffe es so sehr!«
Mit einem Mal zog Margareta ihre Hand wieder zurück. Sie bekam einen seltsamen Gesichtsausdruck – irgendwie in sich gekehrt und seltsam abwesend.
Runa bemerkt es sofort. »Was ist mit dir?«
Margareta schluckte schwer. »Ich weiß nicht. Seit gestern vertrage ich morgens kein Bier mehr. Wahrscheinlich bekümmern mich die Ereignisse doch mehr, als ich es zugeben mag.« Dann reichte sie Runa ihren Sohn und sagte: »Bitte entschuldigt mich.« Schon war sie hinausgestürmt.
Die Eheleute blieben allein zurück. »Du lieber Himmel. Das kam aber plötzlich.«
Walther, der im Gegensatz zu Runa angesichts der jüngsten Geschehnisse nichts seltsam am unruhigen Magen Margaretas fand, zuckte mit den Schultern.
In diesem Moment begann Thido zu schreien. Ohne leises Quäken oder Meckern, das seinen Unmut angekündigt hätte, riss er das kleine Mündchen auf und schrie aus vollem Halse.
Runa war nicht überrascht. Sie kannte dieses Verhalten schon, ihr Sohn hatte einen starken Willen. »Ich glaube, er braucht seine Amme«, sagte sie und erhob sich.
»Ja«, lachte Walther. »Jedenfalls Teile von ihr.«
»Walther!«, tadelte Runa ihren Gemahl wegen dieser abfälligen Bemerkung, fragte jedoch gleich hinterher in netterem Ton: »Kommst du später in die Kemenate und singst für uns, Liebster?«
Er nickte.
Als Runa sich zum Gehen wandte, betrat die Magd Christin die Küche. Ihr Blick fuhr herum, dann sah sie Runa. Sie ging auf sie zu und sagte: »Die Herrin verlangt nach Euch und Eurer Schwester.«
»Ich komme. Hast du meine Schwester auf dem Hof gesehen?«
»Ja, sie wartet schon am Brunnen auf Euch.«
»Gut, bring bitte Thido und Freyja zur Amme und zur Kinderfrau.«
»Natürlich, gebt ihn
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