Das Vermächtnis des Rings
erneut, diesmal knapper als zuvor. »Muthel wird alles in die Wege leiten«, versprach er.
»Und was wird aus dem schwarzen Ei?«, rief Vitode mit einer Mischung aus Trotz und Neugier. »Habt Ihr es vielleicht nur deshalb nicht erwähnt, Drachenpriester, weil Ihr es jetzt, nachdem dieses magische Tor erloschen ist, ohnehin nicht mehr finden könntet?«
»Ich weiß, wo es ist«, entgegnete Djofar gelassen. »Ich habe die Lichter Mitheynandas und des Königspalastes von der Höhle des Drachen aus gesehen. Sie muss im Osthang kurz vor dem Eingang der Nadelschlucht liegen, ungefähr eine halbe Meile über dem Türkis-See und mindestens hundert Schritte über den Bergwiesen, auf denen die Ziegen weiden.«
Er lächelte, als ein aufgeregtes Stimmengewirr wie das Summen eines Bienenstocks aufklang. Plötzlich fielen alle Zweifel von ihm ab. Was auch immer der Grund für das schwarze Ei war, der Drache hatte dem Volk von Runnterum ein Zeichen gegeben, und es lag an jedem Einzelnen, dieses Zeichen zu deuten.
»Und ich glaube«, schloss Djofar, »Ihr alle habt ein Recht darauf, das schwarze Ei zu sehen.«
Es war ein ungewöhnlich stiller Morgen. Im Osten zog sich das Morgenrot beinahe widerwillig hinter die schneebedeckten Gipfel zurück, die wie poliertes Messing glühten. Eine dünne Nebeldecke überzog spinnwebgleich das Gebirgstal und dämpfte das Rauschen des Silberflusses, der sich in schäumenden Kaskaden in die Nadelschlucht stürzte, zu einem dumpfen Murmeln. Unzählige winzige Tautröpfchen ließen die reglose Luft matt funkeln, als wären die Sterne des Himmels kraftlos auf die Erde herabgesunken. Die Schafe lagen widerkäuend im feuchten Gras, schmutziggraue Wollknäule im frischen Grün. Weiter oben auf der Bergwiese kletterten die Ziegen auf der steilen Böschung herum, bedächtig und lautlos. Ein einsamer Schmetterling taumelte verloren von Blüte zu Blüte. Die wenigen Bienen, die sich auf Nektarsuche begeben hatten, umschwirrten die Frühlingsblumen schläfrig und träge. Nur vereinzelt klang das schüchtern anmutende Zwitschern eines Vogels auf.
Djofar suchte die schroffen, schiefergrauen Berghänge, vor denen Bigrael und Rimara, das Cherubpärchen, wie milchige Silhouetten im weichen Licht schimmerten, mit den Blicken ab. Er hielt Ladyas Hand, dankbar für ihre Nähe. Ihre Berührung gab ihm Kraft und Zuversicht. Die Lösung um das Rätsel des schwarzen Eis schien ihm greifbar nahe zu sein, doch jedes Mal, wenn er glaubte, sie zu erkennen, entzog sie sich ihm wieder wie ein flüchtiges Traumbild. Trotzdem war er überzeugt, dass sich letztendlich alles zum Guten wenden würde. Der Oberste Drache mochte das Volk Runnterums prüfen, aber er war ohne Bosheit.
Bigraels Stimme klang wie der Schrei eines Falken aus der Höhe herab. Djofar sah, wie der Cherub und seine Gefährtin vor einem dunklen Spalt in den nahezu senkrechten Felsklippen kreisten.
»Sie haben die Höhle gefunden«, sagte er leise und drückte Ladyas Hand.
In respektvollem Abstand hinter ihnen hatten sich die Einwohner Mitheynandas und der umliegenden Dörfer versammelt, zu denen die Neuigkeiten in Windeseile gedrungen war, eine unüberschaubare bunt gemischte Menge aus Menschen und Alten Geschöpfen, und ständig wurden es mehr. Der schützende Kordon, den König Gauroks Palastwache bildete, hatte nur symbolischen Charakter. Niemand würde es wagen, ohne die Einwilligung des Drachenpriesters vorzutreten.
Mit angelegten Schwingen stießen Bigrael und Rimara wie Raubvögel, die ein Beutetier erspäht hatten, in die Tiefe.
»Die Höhle ist da, wo Ihr sie vermutet habt, Drachenpriester«, berichtete der Cherub atemlos, nachdem er neben Djofar gelandet war. Sein Brustkorb hob und senkte sich in schneller Folge, mehr vor Aufregung als vor Anstrengung. Die daunenartigen Federn, die seinen grazilen Körper bedeckten, vibrierten wie der Flügelschlag eines Kolibris.
»Ein schwarzes Ei in einem Nest aus Stroh«, fügte seine Gefährtin keuchend hinzu. »Und einige Felsvorsprünge, an denen wir die Strickleiter sicher befestigen können.«
Djofar drehte sich zu der kleinen Gruppe um, die diesseits des Kordons der Palastwachen am Rand der Bergwiese wartete. »Die Höhle ist groß genug für Euch alle«, wandte er sich an den König und die Sprecher der verschiedenen Gilden und Zünfte, »aber der Aufstieg wird gefährlich werden. Wer ihn wagen will, darf die Höhle betreten und das schwarze Ei sehen. Doch ich warne Euch. Runnterum hat das
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