Das Vermächtnis des Rings
niemand lachte. Denn alle hatten insgeheim darauf gehofft, sich zu den auserwählten Günstlingen des vermeintlichen Schwarzen Drachen zählen zu dürfen.
»Das Schauspiel ist zu Ende«, fuhr Djofar fort. »Kehrt heim in Eure Häuser, Werkstätten und Tempel, auf Eure Höfe und Felder! Und denkt über die Botschaft nach, die der Oberste Drache uns allen mit diesem Zeichen gegeben hat!«
An diesem Abend lag Ladya zum ersten Mal seit Jahren wieder in Djofars Armen, zum ersten Mal, seit sie beide erwachsen waren. Sie hatten ihre Verlobung bekannt gegeben, und nach den denkwürdigen Ereignissen dieses Tages hätte es niemand gewagt, sie darauf hinzuweisen, dass es für frisch Verlobte selbst in einem so freizügigen Reich wie Runnterum als unschicklich galt, gleich die erste Nacht gemeinsam zu verbringen.
»Und es stört dich wirklich nicht, dass du nicht mein erster Mann bist?«, fragte Ladya ein wenig nervös.
»Wie könnte es mich stören, wenn selbst der Drache darin nichts Verwerfliches gesehen hat?«, fragte Djofar zurück.
Sie küsste ihn zärtlich. »Ich möchte nicht, dass du nur, weil der Drache…«
»Psst.« Djofar legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Ich liebe dich, Ladya, und alles andere ist unwichtig. Ich würde dich auch noch lieben, wenn du längst verheiratet wärst und Kinder von einem anderen Mann hättest.« Er strich ihr eine rabenschwarze Locke aus der Stirn. »Wir alle haben heute eine wichtige Lektion gelernt, wohin falscher Stolz und Eifersucht führen kann.«
Ladya schmiegte sich an ihn. »Trotzdem tun mir Ura, Fontinaal und all die anderen irgendwie leid«, sagte sie. »Es wird lange dauern, bevor sie sich von diesem Gesichtsverlust erholt haben.«
»Es mag eine schmerzliche Lektion für sie gewesen sein«, erwiderte Djofar, »aber sie war nötig, und das Ansehen des Königs hat nicht gelitten. Du hast selbst mit dem Drachen gesprochen und seinen Atem gespürt. Du weißt, dass eine Zeit großer Umwälzungen bevorsteht, und deshalb ist es besonders wichtig, dass das Volk einig ist und sich nicht in kleinlichen Eifersüchteleien entzweit. Dass es sich nicht von Äußerlichkeiten und der Gier nach Macht blenden lässt. Das war die Botschaft des Drachen.« Er schwieg einen Moment lang nachdenklich. »Ich frage mich nur, ob er es uns wirklich auf diese drastische Art zeigen musste.«
»Oh, ich glaube, er wollte uns damit noch mehr sagen.« Ladya lächelte verschmitzt. Ihre schlanken Finger strichen über Djofars Hals und wanderten langsam weiter zu seiner Brust hinab. »All die Regeln, die sich die Menschen ausgedacht haben, um ihrem Leben Ordnung zu geben… Die Kasten und Gesellschaftsschichten, die künstlichen Grenzen. Für den Drachen sind sie bedeutungslos.«
Sie stützte sich auf einen Ellbogen, legte das Kinn in die Hand und blickte Djofar in die Augen. »Es mag ja sein, dass der Goldene Drache der Patron der Herrscher, der Weiße Drache der Patron der Gelehrten und Künstler und der Rote Drache der Patron des gemeinen Volkes ist. Aber das heißt nicht, dass es diese drei Schichten wirklich gibt.«
Djofar runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Gibt es nicht auch im gewöhnlichen Volk Herrscher?«, fragte Ladya, unvermittelt wieder ernst. »Sind nicht Eltern in gewisser Weise Herrscher über ihre Kinder? Sind Meister nicht Herrscher über ihre Gesellen, Bauern Herrscher über ihre Knechte und Mägde, Lehrer Herrscher über ihre Schüler? Ist ein Hirte, der auf seiner Flöte eigene Lieder spielt, nicht auch ein Künstler, eine gute Heilerin nicht auch eine Weise und Gelehrte? Wenn ein Philosoph auf dem Markt mit den Händlern um Obst und Gemüse feilscht, ist er dann nicht auch ein gewöhnlicher Mann? Sind nicht Könige und Fürsten aus dem gemeinen Volk entstanden, und geschieht es nicht manchmal, dass sie ihre Reiche verlieren und im Exil unerkannt mitten unter dem gemeinen Volk leben?«
Der junge Drachenpriester sah sie staunend und voller Bewunderung an. »So habe ich das noch nie betrachtet«, gestand er verblüfft. »Du bist eine weise Frau. Aber was hat das ausgerechnet mit…« – er grinste – »… dem vierten Ei des Drachen zu tun?«
Ladyas Lächeln kehrte zurück. »Ich glaube, der Drache wollte uns damit zeigen, dass es nicht wichtig ist, zu welcher Kaste wir uns zählen oder gezählt werden. In Wirklichkeit ist die Einteilung der Menschen in verschiedene Kasten nichts als…« Sie beugte sich über ihn und flüsterte ihm den Rest ins
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