Das Vermächtnis des Rings
das angefangen? Was war geschehen? Hatte er sich verändert? Oder war die Welt ringsum eine andere geworden?
Das Knacken eines Astes riss ihn aus den Gedanken. Er lauschte. Zunächst hörte er nur den Wind und das Wasser – dann raschelte Laub, ein Zweig brach. Vorsichtige Schritte. Hinter ihm, im Gehölz des Waldes, schlich jemand umher.
Finraels Hand glitt zum Griff des Schwerts. Die vorsichtigen Schritte kamen nicht näher, sondern entfernten sich in Richtung des Lagers.
Finrael erhob sich lautlos und zog ebenso lautlos das Schwert. Kurz darauf stand er wieder unter den Bäumen, hielt den Atem an und lauschte auf weitere verräterische Geräusche. Wer auch immer vor ihm durch den Wald schlich, er war kein geübter Krieger. Viel zu häufig trat er auf tote Äste, blieb im Gestrüpp hängen oder raschelte mit der Kleidung. Finrael hatte keinerlei Mühe, ihm zu folgen und sich unbemerkt zu nähern.
Kurz vor dem Lager blieb der Fremde stehen. Vorsichtig schlich Finrael näher und entdeckte schließlich, hinter dem Stamm einer breiten Eiche verborgen, eine Gestalt, die sich hinter einem Busch duckte und das Lager beobachtete. Das Feuer brannte wieder munter und ließ die Schatten der Bäume tanzen. Im rotgoldenen Schein der Flammen erkannte Finrael einen hageren Mann in abgerissener Kleidung, mit langem Bart und verfilzten Haaren. In der Hand hielt er einen kurzen Dolch.
Kein Gegner für Finrael. Mit einem einzigen Streich seines Schwertes hätte er dem Fremden den Kopf abschlagen können. Doch Finrael war neugierig. Was wollte der nächtliche Besucher? War er ein Kundschafter? Gab es in der Nähe vielleicht doch noch ein Rebellenlager, von dem Finraels Spione nichts wussten? Finrael wartete und beobachtete.
Der Fremde seinerseits beobachtete die beiden Wachtposten. Als er sicher zu wissen glaubte, welchen Weg die beiden gingen und wo sie stehen blieben, kroch er vorsichtig aus seiner Deckung hervor, huschte zum nächstgelegenen Zelt, hob die Plane an und verschwand darin.
Finrael wartete. Er wusste genau um die Gefahr für die Männer im Zelt, falls der Fremde Schlimmes im Schilde führte. Doch etwas an dem Verhalten des Mannes sprach dagegen – und was war schon das Leben einer Hand voll entbehrlicher Soldaten gegenüber der Lust am Spiel, der Befriedigung seiner Neugier?
Wenig später tauchte der Mann wieder unter dem Zelteingang auf, verharrte im Schatten und sondierte die Umgebung, bevor er zurück in den Wald kroch. Finrael folgte ihm erneut unbemerkt bis zur Felsklippe. Dort setzte sich der hagere Fremde fast an dieselbe Stelle wie zuvor Finrael, legte den noch immer gezückten Dolch neben sich und kramte etwas aus dem abgerissenen Wams hervor. Nein, dieser Fremde war eindeutig kein Krieger. Achtlos und unvorsichtig hatte er dem Wald den Rücken zugewandt. Auf Zehenspitzen und mit erhobenem Schwert, bereit zum tödlichen Streich, schlich Finrael heran. Als er näher kam, sah er, dass der Mann zitterte. Er schien kaum fähig zu sein, etwas in den Händen zu halten.
Als Finrael dann nur noch ein paar Ellen von ihm entfernt war, erkannte er, was der Fremde unter seiner Kleidung versteckt hatte: Es war ein Laib Brot, gestohlen aus dem Zelt. Der Mann hatte Essen gestohlen. Er war ein heruntergekommener, halb verhungerter Bettler, nichts weiter.
Einen Moment lang schien die Zeit still zu stehen: der ausgemergelte Dieb, auf dem Felsvorsprung hockend, zwischen den düsteren Gespensterbäumen und dem aufgepeitschten See, hinter ihm Finrael, mit erhobenem Schwert, bereit, dem Halunken, der es gewagt hatte, ihn, den Dunklen, zu bestehlen, den Kopf von den Schultern zu trennen – dann war der Augenblick vorüber. Finrael ließ das Schwert sinken und zog sich so leise zurück, wie er gekommen war. Der Ring an seinem Hals war immer noch schwer. Zwischen den dunklen Wolken funkelte ein einzelner Stern.
Finrael zügelte sein Pferd. Seit damals waren mehrere Wochen vergangen. Nun war er an eben jenem Felsvorsprung angekommen. Noch immer wühlte der Wind im Wasser des Sees, und Wolkenbänke lagen schwer wie ein graues Leichentuch über der Landschaft. Ja, Finrael erinnerte sich noch genau an die letzte Jagd. Was hatte ihn bewogen, das Leben des Diebes zu schonen? Tausend Mal hatte er sich diese Frage gestellt. Erneut hatte er diesen ungreifbaren Widerstand in sich verspürt, der Abscheu in ihm geweckt hatte, Abscheu vor sich selbst und seinen Taten. Abscheu, der seitdem ständig an ihm nagte, ihn nicht mehr los
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