Das Vermächtnis des Rings
Welt zusammen und brachte sie weiter.
Ich wollte ihm widersprechen, aber er würde mich nicht verstehen. Thiam sah nie den Menschen, sondern immer nur das Geld. Im Großen und Ganzen jedoch führte man kein schlechtes Leben, wenn man auf Thiam hörte. Wir taten das, wovon ich immer geträumt hatte, nämlich durch die Welt zu wandern und Neues zu sehen und zu lernen, wobei ich – statt ausschließlich auf die Lehren Thiams zu hören – stets meine eigenen Schlüsse zog.
»Es gibt viele Karpfen und einige wenige Hechte in der Götter Menschenschar«, hörte ich Thiam sagen. »Und ich bin einer der Hechte, keiner der Großen, denn sonst wäre ich Stadtherr, Kaiser oder Ähnliches, aber ich bin ein Hecht. Ich nehme mir, was ich brauche.«
Thiams Weisheiten waren nicht ohne ein Körnchen Wahrheit, aber da war noch mehr. Seit wir vor beinahe einem Jahr Vaters Hof am Rande des Dorfes Ulbrin verlassen hatten, hatte ich gelernt, dass die Welt nicht überall schöner und die Bäume nicht hinter jedem Hügel höher waren als zu Hause – allerdings auch, dass es mehr zu entdecken gab als die beste Fruchtfolge, den günstigsten Zeitpunkt der Aussaat und Ernte oder, in harten Wintern, die Furcht vor den Wölfen, die das Vieh rissen. Und es gab vieles über die Natur des Menschen zu erfahren. Deshalb war ich Vater nicht böse, dass er mich an meinen neuen Herren verkauft hatte. Es war immer noch besser, als ein Bauer oder ein Handwerker zu werden, der nie über die Grenzen seines Dorfes oder seiner Gemeinde hinauskam.
Viele der Menschen, so hatte ich erkannt, dachten mit ihren Lenden, andere, wie eben Thiam, nur mit ihrem Geldbeutel und wieder andere mit beidem. Aber kaum einer dachte mit dem Herzen.
Die wenigsten Menschen folgten den Geboten der Götter, die da verlangten, den Nachbarn zu schützen und den Menschen zu ehren. Und wen konnte es wundern, dachten doch selbst die Priester häufiger an den wohl gefüllten Opferstock und die Pracht ihrer Tempel als an die Not der Gläubigen, und sie waren es doch, die als moralische Vorbilder dienen sollten!
Bisher hatte ich es nie verstanden, warum es den Menschen Ehre brachte, andere zu schlagen, auszubeuten, sie zu schänden oder ihnen noch schlimmere Sachen anzutun. Aber ich war erst zwölf Jahre alt, ein Knabe noch. Was wusste ich schon? Nun, vielleicht würde ich dieses Mysterium ja irgendwann enträtseln.
»Autsch!«, entfuhr es mir, als mich Meister Thiam mit einer Ohrfeige bedachte. Offenbar hatten mich meine Gedanken zu weit fortgetragen, und er hatte den Eindruck gewonnen, ich bedächte ihn und seine lehrreichen Ausführungen nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit.
»Hör mir zu, Tölpel!«, fuhr er mich an. »Du bist nicht nur mein Lakai, sondern auch mein Lehrling. Ich habe dich ausgewählt, weil dein Blick lebendiger, deine Hand flinker und dein Geist wacher ist als die der meisten Bauernlümmel. Ich erwarte von dir, dass du mich eines Tages betrügst, und wenn es dir gelingt, dich dabei nicht erwischen zu lassen, was schwer sein wird«, sein Lächeln wurde selbstgefällig, »dann sei deine Lehre beendet, aber bis dahin gehorche mir und lausche!«
Ich nickte stumm, weil Widerspruch ihn erst recht in Harnisch bringen würde. Thiam sah mich mürrisch an, knurrte und schien nicht zu wissen, was er tun sollte. Ich hielt seinem Blick stand. Er hob die Hand, als wolle er mich erneut schlagen, sah mir immer noch in die Augen, überlegte es sich aber anders, und schließlich ließ er die Hand wieder sinken.
Dann gingen wir weiter. Thiam hatte aufgehört mich an seinen Weisheiten teilhaben zu lassen. Er begann unruhig zu wirken, je näher wir der Handelsstraße kamen. Von weitem konnten wir manchmal zwischen den Hügeln das graue Band der Granitsteine sehen, aus denen die große Straße bestand.
Wir quälten uns auf dem Trampelpfad, der zur Straße führte, eine Anhöhe hinauf. Obwohl die Steigung nicht so steil war, hatte Merzad doch mit dem Karren zu kämpfen, und ich half ihm, so gut es mir möglich war, indem ich kräftig schob.
Thiam hob den Kopf und spähte von der Kuppe hinunter auf die Straße. Vor uns öffnete sich ein weites Tal, und man hatte einen guten Blick auf die Handelsstraße nach Asathir. Die Hügel auf der anderen Seite des Tals waren hier und da von Baumgruppen bestanden. Auch im Tal war der ein oder andere Hain zu finden. Ein kleiner Bach floss dort dem Kersin zu.
Asathir war unser Ziel. Es war der große Herbstmarkt, der Thiam anlockte wie
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