Das Vermächtnis des Rings
»Aber bei diesem Licht kann ich nichts Genaues erkennen.«
Der Regen schien, obwohl kaum vorstellbar, noch schlimmer geworden zu sein. Angelia deutete nach vorne auf das Licht. »Wir sind ganz nahe.«
Sie griff nach den Zügeln ihres Pferdes, das sich langsam in Bewegung setzte und mit dem verwundeten Huf nur vorsichtig auftrat. Shanna folgte den beiden mit ihrem Pferd im Schlepp. Als sie näher kamen, erkannten sie, dass das Licht tatsächlich aus einer sicherlich trockenen und warmen Stube durch ein Fenster nach draußen fiel. Hier draußen, in der Kälte und Nässe, wirkte es wie eine Verheißung, ein Hoffnungsschimmer am Horizont.
Als sie am Haus angekommen waren, versuchte Shanna, einen Blick durch das Fenster zu werfen, doch die Scheiben waren beschlagen. Ein gutes Zeichen, dachte sie. Drinnen schienen in der Tat angenehmere Temperaturen zu herrschen als draußen. »Wir klopfen an«, entschied Angelia, die so wenig wie Shanna erahnen konnte, was sie erwarten mochte. »Wir haben keine andere Wahl.«
Shanna nickte zustimmend, wenn auch nicht freudestrahlend.
Eine Reihe von Blitzen wies ihnen den Weg zur Tür. Angelia schlug drei Mal kräftig mit dem Knauf ihres kleinen Dolchs gegen die schwere Holztür, um sicher zu sein, dass man sie auch hörte. Es verging eine schier endlos wirkende Zeit, und Angelia wollte gerade erneut anklopfen, diesmal mit noch mehr Nachdruck, als die Tür plötzlich einen Spaltbreit geöffnet wurde. Ein kahlköpfiger Mann, der Angelia höchstens bis zur Schulter reichte, spähte durch den Spalt auf die Besucher.
»Was wollt ihr?«, rief er.
»Mein Pferd hat sich verletzt, und wir brauchen einen Platz, um das Unwetter abzuwarten«, antwortete Angelia wahrheitsgemäß.
»Das hier ist keine Herberge«, erwiderte der Mann.
»Wir können nicht weiter, und zurück können wir auch nicht mehr«, versuchte Shanna ihre Lage zu erklären.
»Warum reitet ihr auch alleine, ihr… ihr Weiber?«, zischte der kleine Mann und wollte gerade die Tür wieder schließen, als aus dem Hintergrund eine energische Frauenstimme ertönte: »Willst du bei dem Wetter etwa jemanden abweisen?« Der Mann zuckte bei diesen Worten zusammen, trat dann jedoch zurück und öffnete die Tür.
»Kommt herein«, hörten sie die Frau sagen, und einen Moment später konnten sie ihre Gastgeberin auch sehen. Der Kontrast hätte nicht drastischer ausfallen können. Während der Mann im Vergleich zu der ohnehin eher grazilen Angelia wahrhaft schmächtig wirkte, war die Frau gut einen Kopf größer als sie, und ihr Gewicht musste bei über zweihundert Pfund liegen. »Kommt herein, hier ist es trocken und warm«, forderte sie erneut die beiden, die noch immer in der Tür standen, auf.
»Mein Pferd…«, begann Angelia.
»Hinter dem Haus ist ein Stall, dort könnt ihr eure Pferde unterstellen«, rief die Frau den beiden zu. »Ich mache unterdessen Wasser heiß, ihr könnt bestimmt ein Bad gut gebrauchen, sonst erkältet ihr euch.«
»Danke«, erwiderte Angelia.
»Ihr teilt euch doch sicher eine Wanne, oder? Das spart ein wenig heißes Wasser.«
Shanna nickte bejahend, während Angelia bereits ihr Pferd zum Stall brachte.
»Sie hat dich nicht erkannt«, stellte Shanna fest, als sie die Pferde untergestellt und damit begonnen hatten, sie trocken zu reiben.
»Kein Wunder«, entgegnete Angelia. »Ich würde mich ja selbst nicht erkennen. Sieh mich doch an, ich bin von Kopf bis Fuß mit Schlamm besudelt. Meine Haare sind braun vom Morast. Und wer erwartet schon, dass eine Königin einfach so bei Fremden anklopft und um ein Nachtlager bittet?«
Sie nahmen sich einige Decken, die in einer Ecke des Stalls lagen, und warfen sie über die Pferde, um ihnen ein wenig Schutz vor der Kälte zu geben.
»Na, lass mal sehen«, sagte Angelia und begutachtete Ciessas Vorderhuf. »Da ist eine kleine Wunde zu sehen. Sie muss auf einen spitzen Stein getreten sein. Nichts Ernstes.«
»Aber sie braucht Ruhe, oder?«, fragte Shanna.
Angelia nickte. »Ein oder zwei Tage sollte der Huf besser nicht belastet werden.«
»Dann reitest du mit meinem Pferd weiter, sobald der Regen aufgehört hat. Ich komme später mit Ciessa nach«, schlug Shanna vor. Ihr langes, pechschwarzes Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie sich nach vorne beugte, um sich Ciessas Huf anzusehen.
»Falls der Regen wieder aufhört«, entgegnete Angelia, während sie die Stalltür hinter sich schloss. Das Zentrum des Unwetters schien sich unmittelbar über ihnen zu befinden,
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