Das Vermächtnis des Rings
ANDER
M OHAARA
»Bald wird es regnen«, sagte Shanna eher beiläufig. Es bedurfte keiner seherischen Fähigkeiten, um diese Feststellung zu treffen. Ein wachsames Auge und ein zeitiger Blick zurück genügten. Die finstere Wolkenfront rückte unerbittlich näher; schneller, als ihre Pferde sie voranbringen konnten.
»Vielleicht schaffen wir es ja doch noch bis zum Schloss«, entgegnete Angelia. Ihr langes rotes Haar wehte ihr wie die Flamme einer Fackel um den Kopf. Sie warf Shanna einen kurzen Blick zu, der Optimismus verbreiten sollte. Vielleicht hilft ja ein kleiner Zauber, dachte Shanna, sprach es aber nicht aus.
»Hast du dich mal umgesehen?«, rief Shanna ihr zu. Sie gehörte zu dem engen Kreis, der Königin Angelia nicht mit ihrem Titel anreden musste.
»Nein, das hast du ja schon für mich getan.«
»Vielleicht hätten wir doch in diesem Gasthof einkehren sollen«, gab Shanna zu bedenken. »Wenigstens, bis das Unwetter vorübergezogen ist.«
»Zu spät«, entgegnete Angelia lakonisch. »Wir würden mitten in das Unwetter reiten. Außerdem weißt du, welch ein Theater die Leute veranstalten, wenn ihre Königin unter ihnen auftaucht.«
»Das ist nun mal der Fluch, der auf dir lastet«, merkte Shanna trocken an. »Dafür darfst du ein ganzes Reich regieren. Die Ehre wird schließlich nicht jedem zuteil.«
»Ja. Aber an manchen Tagen wünschte ich mir, dass ich eine ganz normale Frau wäre, die nicht von jedem angestarrt wird.«
»Meinst du eine ganz normale Frau, die Kinder bekommt und sich um die Mahlzeiten kümmert, während ihr Mann auf dem Feld arbeitet?«
Angelia verzog das Gesicht, sagte dann aber: »Ja, so in etwa.«
»Ich weiß genau, wann du mir etwas vormachst.«
Sie ritten unbeirrt weiter, noch war der Wettlauf zum Schloss nicht entschieden. So sehr sie ihre Pferde jedoch zur Eile antrieben, die Wolken rückten näher und näher. Erste Blitze und das anschließende Grollen des Donners machten den beiden unmissverständlich klar, dass sie nicht die Sieger sein würden.
Und dann brach das Unwetter los, fast so, als hätte ihnen jemand einen Fluch angehängt. Der Regen prasselte mit unglaublicher Gewalt auf Angelia und Shanna nieder, Nadelstichen gleich traf er auf die Hautpartien, die nicht von Stoff oder Leder bedeckt waren. Die Wolkenfront war so dicht, dass sie den Tag zur Nacht machte. Rings um die beiden Reiterinnen zuckten Blitze aus den Wolken, gefolgt von ohrenbetäubendem Donner. Angelia suchte links und rechts des Weges vergeblich nach einer Möglichkeit, sich unterzustellen. Es war gefährlich, bei diesem Wetter weiterzureiten. Der Boden weichte immer stärker auf, und jeden Augenblick konnte eines der beiden Pferde den Halt verlieren und stürzen.
Schon nach kurzer Zeit war es stockfinster geworden. Sie ritten langsamer und versuchten im Licht der häufig niedergehenden Blitze den Weg, der vor ihnen lag, so gut wie möglich auszumachen.
»Wir werden uns verirren«, rief Shanna, so laut sie konnte, um sich bei dem nahezu pausenlosen Donner verständlich zu machen. »Ist es noch weit?«
Von einer ganzen Blitzsalve erhellt, konnte Shanna die Antwort an Angelias Gesicht ablesen: Bis zum Schloss war es zu weit.
»Da vorn«, schrie Angelia plötzlich.
Shanna versuchte, etwas zu erkennen, doch der Regen prasselte ihr mit solcher Gewalt ins Gesicht, dass sie Mühe hatte, die Augen auch nur einen Spalt breit zu öffnen. Dann sah sie, was Angelia gemeint hatte. Vor ihnen, in der Finsternis zwischen den Blitzen, war ein schwaches Licht auszumachen. Es musste sich um das Fenster einer Hauses handeln. Shanna spürte kurz Erleichterung in sich aufsteigen, dann begann sie sich zu fragen, was sie dort wohl erwarten mochte.
Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als sich Angelias Pferd aufbäumte, laut wieherte und seine Reiterin abwarf. Shanna brachte ihr Pferd zum Stehen, stieg ab und rannte zu Angelia, die regungslos dalag.
»Angelia!«, rief sie. »Ist dir etwas passiert?«
Angelia schüttelte leicht benommen den Kopf, dann richtete sie sich sitzend auf, lauschte in ihren Körper und sagte schließlich: »Ich glaube nicht.« Im nächsten Moment erinnerte sie sich an ihr Pferd. »Was ist mit Ciessa los?«, wollte sie wissen.
Shanna half Angelia auf die Beine, dann gingen sie durch den Morast zu Ciessa. Das Pferd hielt den rechten Vorderhuf so, dass er nicht belastet wurde.
»Sie muss sich etwas in den Huf getreten haben«, erwiderte Shanna schließlich.
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