Das Vermächtnis des Rings
Sie trug eine blassgraue Tunika, die über ihren kleinen Brüsten zerschlitzt war und eine lange, rötliche Narbe auf heller Haut sehen ließ. Die Tunika war blutgetränkt; ein heller Gürtel raffte sie an den schmalen Hüften zusammen. Die Schließe hatte die Form eines Lindenblatts. Das Mädchen war unbewaffnet und wirkte geschwächt. In der Hand hielt sie die Phiole, die nun wieder verstöpselt war – mit einem hellen, sauberen Korken, der nicht mehr den Anschein erweckte, von Schlick bedeckt zu sein. Zu ihren Füßen lag ein schartiges schwarzes Schwert mit einem groben Griff aus schmutzigem Leder. Die Waffe hatte vorher noch nicht da gelegen, und… wo war mein Schwert? Ich sah mich suchend um.
Bei jeder meiner Bewegungen wallte Gestank auf, und ich schaute an mir herab. Keineswegs trug ich die nüchterne, blau und grün gestreifte Uniform des Schillernden, die zu erblicken ich erwartet hatte, sondern graue Lumpen unter einem langen schwarzen Lederwams, das mit groben, rostigen Knöpfen beschlagen war. Meine Füße steckten nicht in Stiefeln, sondern in schweren, mit Unrat verkrusteten Felllappen, die von rissigen Lederschnüren mehr schlecht als recht zusammengehalten wurden.
»Was… was…?«, stammelte ich rau, stand taumelnd auf, verlor den Boden unter den Füßen und brach wieder zusammen: Unter lautem Astkrachen setzte ich mich mit dem Hinterteil in einen Busch. Blätter stoben auf. Die Unbekannte stürzte zu mir und hielt sich den Finger an die vollen Lippen: Ich solle leise sein. Aus der Nähe war sie unirdisch schön.
Ich fasste mir an die Stirn und griff in struppiges, verfilztes Haar. Daraufhin tastete ich höher und fand einen Metallhelm mit rauer Oberfläche. Ich nahm ihn ab; ein einfacher runder Helm, mit Rostnarben übersät. Ähnliches hatte ich nun schon fast erwartet, doch…
»Was…?«, flüsterte ich wieder und barg das Gesicht in den Händen. Mir war, als wäre ich aus einem schlimmen Traum erwacht – nein, ich fühlte mich wie neu geboren.
»Du musst still sein«, sagte das Mädchen leise, aber eindringlich. »Kameraden von dir sind noch auf dem Feld; wenn sie gehen, müssen wir fliehen, bevor es dunkel wird.« Sie sprach mit der gleichen Stimme wie der Vampir, allein die Arroganz und der schneidende Hohn waren verschwunden.
»Wer… bist du?«, wisperte ich stockend, »und was… ist mit mir geschehen?«
»Ich bin Enea, eine Albin«, sagte sie zu meinem Erstaunen und fügte hastig hinzu: »Wir müssen nun Schweigen wahren und ganz still sein. Noch einmal haben wir nicht so viel Glück.«
Trotz aller Fragen, die in mir brannten, legte ich mich ruhig auf den Boden und hielt den Mund. Ich bin ein Krieger; zu schweigen habe ich gelernt. Wir krochen zwischen die Büsche, sodass wir einen großen Teil des Schlachtfeldes im Auge behalten konnten; es erschien mir nun viel kleiner als vorher, und grüner. Die Sonne näherte sich den Hügeln im Westen. Noch zwei Stunden bis zur Abenddämmerung. Mir war schwindlig, und mein Kopf war leer. Ich wusste nicht einmal meinen Namen.
Endlich breitete sich die anbrechende Nacht wie ein Reitermantel über uns. Meine einstigen Kameraden hatten sich von der Walstatt zurückgezogen; nur zwei Mal war einer von ihnen unserem Versteck so nahe gekommen, dass ich den Schwertgriff fester packte. Wie mich das schimmelige Leder ekelte, mit dem der Griff der lieblos geschmiedeten Waffe umwickelt war! Und welchen Abscheu ich vor den Gestalten empfand, die ich noch vor wenigen Stunden als aufrechte Streiter und Kameraden betrachtet hatte! Gebückt schlurften sie in zerschlissenem Schuhwerk umher; in bärtigen Gesichtern unter zottigem Haar glänzten starre, teilnahmslose Augen.
Und wie ich selbst aussah! Ich steckte in übelriechenden Lumpen, meine Unterarme waren mit schwärenden Flohbissen und Wanzenstichen bedeckt, meine Fingernägel gelb und eingerissen, zwei Finger der linken Hand entzündet – wie hatte ich überhaupt meinen Speer geführt? Unter welcher Droge, unter welchem Zauberbann hatte ich gestanden, bis das Heilelixier mir die Augen öffnete?
Zeit zum Nachdenken hatte ich genügend gehabt. Wenn die Vampire in Wahrheit schöne Alben waren, was waren dann die, die ich als Alben gekannt hatte? Von meinem Spähposten konnte ich undeutlich eine Gestalt sehen, die im hohen Gras lag, einen verkrümmten Leib und eine dunkle Pranke mit spitzen, schwarzen Fingernägeln.
Während ich noch versuchte, mehr Einzelheiten auszumachen, bemerkte ich, dass ich
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