Das Vermächtnis des Rings
Pflanzen wurden weniger, bis die beiden schließlich eine Stelle erreichten, an der gar nichts mehr wuchs, nicht einmal ein einzelner Grashalm. Selbst die Tiere hatten diesen Teil des Waldes verlassen.
Aylon fröstelte. Ein kalter Hauch schien von dem toten Land und den wie skelettiert aussehenden Baumstümpfen auszugehen. Der Boden unter ihren Füßen war schwarz, wie mit Pech überzogen.
»Was… was ist das?«, fragte er entsetzt. Er hatte die dunklen Flecken, die ihm bei seiner Ankunft aufgefallen waren, für gepflügte Felder gehalten, doch vollkommener konnte ein Irrtum kaum sein.
»Der Preis, den Harlin und die anderen bezahlen mussten«, antwortete Shylena. Ihre Stimme klang gepresst und traurig. »Nehmen wir Harlin selbst. Er war stets ein aufrechter und ehrlicher Mann, aber er war auch stur und wollte oft genug mit dem Kopf durch die Wand, war aufbrausend, jähzornig und leicht reizbar.«
»Das hört sich gar nicht nach dem Harlin an, den ich kennen gelernt habe«, entgegnete Aylon skeptisch.
»Eben. Mit seiner Körperlichkeit legte er auch diese negativen Eigenschaften seines Charakters ab, genau wie alle anderen. Und dieser freigesetzte Teil der Finsternis, die in ihnen war, hat dies hier verursacht. Sie haben sich des Zaubers Ai’Bons bedient, haben ihn an sich gerafft und missbraucht und diesem Land damit Wunden geschlagen, die vermutlich niemals mehr heilen werden.
Deswegen halte ich ihren Weg für so grundlegend falsch, und deshalb weigere ich mich, ihn ebenfalls einzuschlagen. Jeder weitere Elb, der seine Körperlichkeit aufgibt, verdirbt mit der Unreinheit in seinem Geist ein weiteres Stück der Insel, und der Prozess setzt sich immer schneller fort. Wir töten unsere Heimat, kaum dass wir sie wiedergewonnen haben. Vielleicht sind sogar die Duuls nur ein letztes Aufbegehren des Schicksals, uns an unserem Vorhaben zu hindern.« Sie erschauderte und wandte sich ab. »Komm, lass uns zurückgehen. Ich ertrage diesen Anblick nicht länger.«
Aylon stimmte ihr hastig zu, ihm erging es nicht anders. Schweigend ging er neben Shylena her. Erst als die Bäume um sie herum sich wieder grün gefärbt hatten, fiel etwas von der Bedrückung von ihnen ab.
»Was haben die Duuls mit dem hier zu tun?«, erkundigte er sich.
Shylena zuckte die Achseln. »Nur so ein Gedanke von mir«, behauptete sie. »Sie töten alles und jeden, dem sie begegnen, aber uns Eiben hassen sie besonders abgrundtief, vielleicht, weil wir in so vielfacher Hinsicht das genaue Gegenteil von ihnen sind. Anfangs waren es nur wenige, aber dann kamen immer mehr. Wer nach Ai’Bon wollte, musste durch ihr Gebiet, und viele Eiben sind von ihnen getötet worden. Das meinte ich damit, dass das Schicksal durch sie womöglich verhindern wollte, dass immer mehr und mehr von uns herkamen, um der Insel weiteren Schaden zuzufügen. Aber du siehst ja, viele von uns kamen trotzdem durch, zu viele. Ein Elb kann über eine gewisse Distanz hinweg spüren, wenn ein anderer in Gefahr schwebt. Deshalb haben Larkon und Melos uns gestern auch rechtzeitig und genau an der richtigen Stelle erwartet. Auf die gleiche Art wurden viele der anderen gerettet.«
Aylon wusste nicht recht, was er von alldem halten sollte. Er war ein Magier, und Magie war ein beinahe ebenso natürlicher Teil seines Lebens wie das Atmen, doch mit dem merkwürdigen Zauber Ai’Bons konnte er nichts anfangen. Es musste eine gänzlich fremde Magie sein, vielleicht die Urkraft der Schöpfung selbst, denn er vermochte sie nicht zu erspüren. Immerhin hatte er gesehen, was sie bewirken konnte – im Guten wie im Schlechten.
Irgendetwas musste während ihrer Abwesenheit geschehen sein, das war deutlich zu spüren, kaum dass sie die Stadt wieder erreicht hatten. Es war geisterhaft still, und die Straßen waren wie ausgestorben, nirgendwo war auch nur ein einziger Elb zu sehen. Aylon wechselte einen besorgten Blick mit seiner Begleiterin, doch Shylena wirkte ebenso ratlos.
Sie entdeckten die Eiben schließlich auf dem großen Platz, auf dem der Greif bei ihrer Ankunft gelandet war. Wiederum hatten sich hunderte versammelt, und Aylons erster Gedanke war, dass neue Ankömmlinge eingetroffen waren, doch diese Vermutung bewahrheitete sich nicht.
»Es ist Mjallnir«, stieß einer der Eiben auf eine entsprechende Frage Shylenas hin hervor. Sein Gesicht zeigte deutliche Spuren von Schrecken. »Er ist krank geworden.«
»Krank?«, echote Shylena fassungslos. »Aber wie…« Sie sprach nicht
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