Das Vermächtnis des Rings
sich wider besseres Wissen an die verzweifelte Hoffnung geklammert, dass der Greif doch wieder genesen würde.
Großes Wehklagen brach nach Mjallnirs Tod unter den Eiben aus, und Aylon kam sich ein wenig schäbig vor, dass er in erster Linie an die Konsequenzen dachte, die der Tod dieses wundersamen Wesens für ihn persönlich hatte. Shylena ihrerseits dachte gar nicht daran, die Trauer der anderen Eiben zu respektieren. Stattdessen trieben Schmerz und Verzweiflung sie dazu, Harlin gerade an diesem Tag so heftig wie nie zuvor mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen zu attackieren. Ihr Zorn schien grenzenlos und war nicht zu besänftigen. Aylon sah schließlich keinen anderen Weg, als sie fast gewaltsam wegzuschleppen.
Ihr Widerstand erlosch schlagartig, nachdem er sie ein paar Schritte zur Seite gezerrt hatte. Mit einem Mal warf sie die Arme um seinen Hals und klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihn, so fest, dass er selbst kaum noch Luft bekam. Ihr Körper bebte, als sie ihren Tränen an seiner Schulter freien Lauf ließ.
Aylon hielt sie tröstend fest und wartete, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte und ihre Tränen versiegten, während die unterschiedlichsten Empfindungen ihn durchströmten, wie sie ihm in dieser Intensität bislang völlig fremd gewesen waren und die dem ursprünglich traurigen Anlass in keiner Form angemessen schienen.
Auch Shylena erging es wohl ähnlich, denn als sie sich schließlich von ihm löste, schaute sie ihn fast verwundert und mit einem Leuchten in den Augen an, das vorher nicht darin gelegen hatte.
»Komm«, sagte sie nur und ergriff seine Hand.
In ihrem Gemach angelangt, streiften sie sich gegenseitig die Kleider vom Leib und ließen sich auf das Bett sinken. Shylena war nicht die erste Frau, mit der Aylon das Lager teilte, aber nie zuvor war es mit solcher Leidenschaft und Hingabe geschehen. Während er tief in sie eindrang und sie ihn mit ihren Armen und Beinen umklammerte, kam sie ihm wie eine Ertrinkende vor, die einen Halt bei ihm suchte, den niemand sonst ihr geben konnte.
Schwer atmend lagen sie anschließend noch lange nebeneinander und hingen ihren Gedanken nach, bis Shylena schließlich als Erste das Schweigen brach.
»Wir müssen hier weg«, sagte sie. »Ich verliere den Verstand, wenn ich noch länger auf Ai’Bon bleiben und mitansehen muss, was aus meinem Volk geworden ist.«
Aylon rollte sich zu ihr herum, stützte das Kinn auf seine Hände und blickte sie traurig an.
»Auch ich möchte hier weg, aber du hast selbst erklärt, dass nur Mjallnir uns von der Insel hätte wegbringen können.«
»Nun, vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit«, murmelte sie.
Nach einem kurzen, bedeutungsschwangeren Zögern schilderte sie ihm ihren Plan.
»Das ist der idiotischste Plan, von dem ich je gehört habe. Ich weiß gar nicht, was ich hier mache. Ich muss verrückt geworden sein«, brummte Aylon, doch die Worte dienten in erster Linie dazu, seine Nervosität und Angst zu verbergen.
Sie waren in die Grotte mit den heiligen Quellen tief unter der Stadt zurückgekehrt. Anders als bei der Zeremonie vor fast zwei Wochen, brannten diesmal keine Kerzen, die das Gewölbe erleuchteten. Im zuckenden Licht zweier Fackeln, deren Schein nur wenige Schritte weit reichte, bevor er vom schwarzen Gestein einfach aufgesogen zu werden schien, kletterten sie über Felsen, die im Laufe von Jahrmillionen vom Wasser so glatt geschliffen worden waren, dass ihre Füße kaum Halt fanden. Jeder Schritt wurde zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang, und sie kamen nur langsam voran. Irgendwo neben und unter ihnen gähnte die schwarze Oberfläche des Sees, und Aylon erinnerte sich noch zu gut daran, was Harlin ihm über das Schicksal derjenigen erzählt hatte, die darin badeten, ohne die nötige geistige Reinheit erlangt zu haben.
»Wir haben leider keine andere Wahl«, antwortete Shylena mit einiger Verspätung.
»Das macht die Sache nicht weniger verrückt«, stellte Aylon verdrossen fest. »Mir fallen auf Anhieb ungefähr eine Million Gründe ein, aus denen es nicht gelingen kann, und wenn ich erst intensiver darüber nachdenke, stoße ich bestimmt noch auf ein paar Millionen mehr – selbst wenn wir das hier lebend überstehen und das Tor erreichen.«
Obwohl er leise sprach, hallte seine Stimme von den Felswänden wider und klang selbst in seinen Ohren verzerrt und merkwürdig falsch.
»Mein Volk hat Ai’Bon schon einmal auf diesem Weg verlassen«, erinnerte Shylena
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