Das Vermächtnis des Rings
augenblicklich ein, und als er schließlich durch ein lautes Klopfen an der Tür geweckt wurde, fühlte er sich ausgeruht und erfrischt wie schon lange nicht mehr. Draußen war es noch immer hell.
Ohne eine Erwiderung auf ihr Klopfen abzuwarten, öffnete Shylena die Tür und trat ein. Ein spöttisches Lächeln spielte um ihre Mundwinkel, während sie Aylon musterte.
»Na, endlich ausgeschlafen?«, erkundigte sie sich. »Ich dachte mir, ich sehe lieber nach, ob du überhaupt noch lebst.«
»Wieso? Es ist doch noch nicht einmal Abend«, verteidigte sich Aylon.
Ihr Lächeln wurde noch eine Spur breiter. »Das ist richtig. Es ist erst Vormittag – allerdings auch einen Tag später, als du glaubst. Du hast die ganze Nacht durchgeschlafen. Müde, wie du warst, hast du den Schlaf wohl dringend gebraucht, deshalb haben wir darauf verzichtet, dich gestern noch zu wecken.«
Aylon erschrak ein wenig. Er konnte kaum glauben, was er da hörte, aber es gab keinen Grund, an den Worten Shylenas zu zweifeln.
»Es ist ein wenig peinlich, wenn man Ehrengast eines Festes ist und dann nicht erscheint«, sagte er. »Ich hoffe, Harlin ist mir nicht böse.«
Shylena winkte ab. »Keine Sorge, er selbst hat bestimmt, dass wir dich schlafen lassen sollen. Und du musst dir keine Sorgen machen. Unsere Ankunft war nur ein Vorwand. Im Grunde findet hier jeden Abend ein Fest statt.« Sie deutete auf zwei Satteltaschen, die neben der Tür lagen. »Ach ja, Larkon hat deine Sachen geholt. Dein Pferd konnte er nicht mitbringen, deshalb hat er es freigelassen.«
Aylon atmete erleichtert auf. In den Taschen befanden sich tatsächlich viele unersetzliche Dinge, hauptsächlich Hinterlassenschaften seines Vaters, die es auf Arcana kein zweites Mal gab.
»Du möchtest dir bestimmt die Insel ansehen«, sprach Shylena weiter. »Wenn du endlich aus dem Bett herauskommst, kann ich dir alle Sehenswürdigkeiten zeigen. Ich warte so lange draußen.«
Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, sprang Aylon auf, wusch sich und kleidete sich an. Kurz darauf machte er sich zusammen mit Shylena auf den Weg, um Ai’Bon zu erkunden, und es gab eine Menge zu sehen, wie er in den folgenden Stunden feststellte. Nur ein kleiner Teil der Insel war urbar gemacht worden. Er entdeckte einige Weinberge und Felder mit Mais und verschiedenen Getreidesorten. Doch erschienen ihm die Felder reichlich klein, um die gesamte Bevölkerung zu versorgen, selbst wenn nur einige hundert Eiben hier lebten. Auf seine entsprechende Frage hin lächelte Shylena nur, gab aber keine Antwort.
Der bei weitem größte Teil der Insel war in seinem ursprünglichen Zustand belassen, wie Aylon schon aus der Luft gesehen hatte. Eine Veränderung wäre ihm allerdings auch geradezu wie ein Frevel vorgekommen, denn Ai’Bon erwies sich als ein regelrechtes Paradies, von der Natur so wunderschön und perfekt geschaffen, wie es die Hand eines Menschen oder auch eines Eiben niemals hätte vollbringen können. Es gab zahlreiche Lichtungen im Wald, die dicht wie ein Teppich mit bunten, blühenden Blumen bewachsen waren, sodass sie ein einziges Blütenmeer bildeten. Es gab kristallklare Bäche und Bäume, an denen wohlschmeckende Früchte wuchsen, wie Aylon sie noch nie zuvor gesehen und gegessen hatte.
Auf einer der Blumenlichtungen, durch die sich ein Bach in zahlreichen munteren Kaskaden ergoss, um wenig später in einen mit Seerosen bewachsenen Tümpel zu münden, legten sie eine Rast ein. Der Duft der Blüten erfüllte die Luft, und Schmetterlinge tanzten um sie herum. Aylon fühlte sich so unbeschwert und wohl wie schon lange nicht mehr.
»Hier ist es wunderschön«, seufzte er. »Ich kann gut verstehen, dass dein Volk diese Insel liebt und hierher zurückgekehrt ist.«
»Und dadurch auf dem besten Weg ist, die Schönheit und den Zauber Ai’Bons zu zerstören«, entgegnete Shylena heftig. Ein Schmetterling, der sich auf ihrem ausgestreckten Finger niedergelassen hatte, stob erschrocken auf.
»Dein Gespräch mit Harlin gestern scheint nicht besonders erfolgreich gewesen zu sein.«
»Nein, aber im Grunde habe ich nichts anderes erwartet. Trotzdem musste ich zumindest noch einen Versuch unternehmen.« Shylenas Stimme bebte vor Zorn und stand in krassem Gegensatz zu der Idylle um sie herum. »Wahrscheinlich ist es ohnehin schon zu spät. Sie sind bereits zu weit gegangen, um noch zurück zu können.«
»Wovon sprichst du?«
Sie zögerte mit der Antwort, doch schließlich zuckte sie mit den Schultern.
Weitere Kostenlose Bücher