Das Vermächtnis des Rings
stürzten in Kaskaden und kleinen Wasserfällen über die Felsen und vereinigten sich in einem kleinen See in der Mitte der Grotte. Zusätzlich musste der See auch von weiteren unterirdischen Quellen gespeist werden, denn an mehreren Stellen befand sich die Oberfläche in ständiger brodelnder Bewegung.
»Die heiligen Quellen, denen das Volk der Eiben einst vor vielen Jahrtausenden entstieg«, erklärte Harlin ehrfurchtsvoll. »Und nun vollziehen wir diesen Schritt erneut.«
Aylon verzichtete auf eine Antwort. Was hier auf Ai’Bon geschah, war allein Sache der Eiben, und er hatte kein Recht, sich einzumischen. Doch seit er am Nachmittag die toten Wälder und den kranken Greif gesehen hatte, deckte sich sein Standpunkt mit dem Shylenas. Trotzdem konnte er sich der andächtigen Atmosphäre, die in der Grotte herrschte, nicht völlig entziehen.
Aylon musste sich mehr als eine halbe Stunde gedulden, bis schließlich auch Skalos und Vilon erschienen, zwei alte Männer. Was dann geschah, war ebenso unspektakulär wie beeindruckend. Die beiden Eiben traten an den Rand des Sees, streiften ihre Gewänder ab und stiegen langsam ins Wasser. Der Grund unter ihren Füßen musste ziemlich steil abfallen, denn schon nach wenigen Schritten reichte ihnen das Wasser bis zum Hals, und gleich darauf waren sie völlig untergetaucht.
»Diese Quellen sind das größte Heiligtum unseres Volkes«, raunte Harlin Aylon zu. »Sie besitzen ungeheure magische Kraft, aber sie sind auch gefährlich. Wer in ihnen badet, ohne die nötige geistige Reinheit erworben zu haben, den töten sie.«
Es dauerte eine Weile, bis Skalos und Vilon wieder auftauchten, und als sie es schließlich taten, hatten sie sich verändert. Als alte Männer waren sie in den See getaucht, jung und kraftvoll kehrten sie daraus zurück. Jubel ertönte, als sie ans Ufer stiegen, doch nachdem Aylon sie eine Zeit lang beeindruckt angesehen hatte, beachtete er sie nicht weiter. Wie gebannt starrte er auf das Wasser des Sees.
Trotz der unzähligen Kerzen, die die Grotte mit flackerndem Licht erfüllten, hatte der See bisher wie eine graue Fläche gewirkt. Nun schien er sich noch mehr zu verfinstern, als hätten die Körper der beiden Eiben das Wasser verunreinigt. Wie ein pechschwarzes, abgrundtiefes Loch in der Wirklichkeit lag der See da.
Mit einem Mal war Aylons andächtige, ehrfurchtsvolle Stimmung verflogen. Schaudernd wandte er den Blick ab.
Auch in den folgenden Tagen besserte sich Mjallnirs Zustand nicht. Anders als die Eiben, hatte Aylon keine sonderlich ausgeprägte Beziehung zu dem Greif, obwohl ihm das edle, jahrtausendealte Tier natürlich leid tat. Er sorgte sich jedoch aus einem ganz anderen Grund mindestens ebenso sehr um Mjallnir wie die Eiben. Shylena hatte ihm gesagt, dass es nur auf dem Rücken des Greifs möglich wäre, den See zu überwinden, insofern stellte Mjallnir für ihn den einzigen Weg dar, Ai’Bon jemals wieder zu verlassen. Auch ohne dass er mit Shylena darüber sprach, wusste er, dass es ihr genauso erging. Für sie musste es die reinste Hölle bedeuten, mitanzusehen, wie ihr Volk die Insel zugrunde richtete.
Immerhin – sie waren beide Außenseiter, und das schweißte sie zusammen. Je mehr Zeit Aylon mit Shylena verbrachte und je besser er sie kennen lernte, umso tiefer wurden seine Gefühle für sie.
Die wichtigste Parallele in ihrem Schicksal war vielleicht, dass sie beide jeweils Kinder verschiedener Welten waren, dass sie unterschiedlichen Völkern entstammten, ohne sich einem davon richtig zugehörig zu fühlen. Diese Entwurzelung und Heimatlosigkeit machten sie nicht nur hier auf Ai’Bon, sondern überall zu Außenseitern, die durch die Welt irrten, ohne selbst zu wissen, wonach sie eigentlich suchten, und diese Gemeinsamkeit wob ein stärkeres Band zwischen ihnen als alles andere. Sie verbrachten jeden Tag miteinander, und mehr noch als die Schönheit Ai’Bons machte Shylenas Gegenwart sein unfreiwilliges Asyl auf der Insel erträglich.
Aus seinen Studien der Magie wusste Aylon, dass die Dreizehn entgegen landläufiger Meinung eigentlich eine Zahl mit starker positiver Kraft war, doch für ihn war der dreizehnte Tag seines Aufenthalts auf Ai’Bon der Tag, an dem alle Aussichten, die Insel wieder verlassen zu können, endgültig zerstört wurden, denn an diesem Tag starb Mjallnir. Sein Ende war durch die beständige Verschlechterung seines Zustands vorherzusehen gewesen, doch Aylon hatte es nicht wahrhaben wollen und
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