Das Vermächtnis des Templers
weise lenke. Dieses Vertrauen stärkt auch Johannes, sich zu sammeln und wieder in den Augenblick zurückzukehren.
Etwas Neues beginnt. Halt an! Schau! Höre …
3. Kapitel
«Es gibt keine Karte, die dir helfen könnte», sagte der Novizenmeister.
Im Lesesaal hatten Johannes und Jordanus noch einmal all jene Bücher studiert, die sich mit geographischen Fragen beschäftigten. Doch das Ergebnis war enttäuschend.
Auf dem Pult lag eine Kopie der Ebstorfer Weltkarte: Innerhalb eines großen Kreises von gut sechs Ellen Durchmesser waren alle bekannten Länder, Flüsse, Meere, Gebirge und größeren Städte verzeichnet. Im Mittelpunkt befand sich Jerusalem, so als habe man von dort mit einem Zirkel den äußeren Weltkreis gezogen. Vom nördlichsten Punkt des Kreises blickte Christus als Weltenherrscher herab. Überall fanden sich kleine Illustrationen, die wohl Besonderheiten der jeweiligen Landschaft darstellen sollten. Da waren Gebäude zu erkennen, die dem kundigen Geographen wohl bekannt sein mussten, Wappentiere, die einen bestimmten Herrschaftsbereich kennzeichneten, und auch viele Flüsse wurden benannt. All dies sagte Johannes jedoch wenig. Er hatte schon Mühe, die Weser zu entdecken. Und Loccum war gar nicht aufzufinden, nur das Steinhuder Meer als kleiner blauer Fleck. Wie sollte eine solche Karte dienlich sein?
Dann studierten sie Reisebeschreibungen. Ein Band schilderte eine Pilgerreise nach Santiago, ein anderer eine Reise zum Kloster von Cîteaux. Tagesstrecken und Unterkünfte entlang des Weges waren verzeichnet. Manchmal gab es auch Hinweise auf Gefahren, die es auf der langen Strecke zu überwinden galt: Untiefen bestimmter Flüsse, Gegenden, in denen man mit Räubern rechnen musste, Wälder, die nicht passierbar waren. Manches konnte für den Reisenden aufschlussreich sein. Aber diese Bücher waren zu groß und unförmig, als dass man sie unterwegs mit sich führen konnte. Und Jordanus hatte seine Zweifel, ob diese mehr als sechzig Jahre alten Beschreibungen noch mit dem übereinstimmten, was den Wanderer heute erwarten würde.
Schließlich stellten sie die Bände zurück an ihren Platz und begaben sich in den Kreuzgang. Der März hatte die ersten sonnigen Tage gebracht. Auch heute war der Himmel wolkenlos. Ein Spaziergang durch den Innenhof tat nach vielen Tagen der Kälte und Dunkelheit gut.
«Wann werde ich erfahren, wohin meine Reise geht?», fragte Johannes.
Jordanus schwieg einen Moment.
«Vielleicht sagt es dir der Abt», antwortete er. «Vielleicht wirst du von ihm auch nur die erste Station deiner Reise erfahren. Aber mach dir nicht so viele Sorgen. Diejenigen, die möchten, dass du dich auf den Weg machst, werden dich nicht allein lassen. Übrigens, was meinst du, wie groß die Strecke ist, die du an einem Tag zurücklegen kannst?»
Johannes dachte nach.
«Vielleicht die Strecke von Loccum nach Minden», antwortete er.
«Gut geschätzt. Ja, diese Strecke kann man an einem Tag gehen. Bis zu deinem Zielort wirst du etwa drei Monate unterwegs sein. Vorausgesetzt, nichts hält dich auf.»
Johannes blickte den Novizenmeister überrascht an.
«Drei Monate?»
«Mit dem Pferd wärst du schneller. Je nach Beschaffenheit des Weges könntest du am Tag gut die doppelte Strecke schaffen. Aber wir werden dir kein Pferd mitgeben. Du reist als armer Pilger, als Mönch. Ein Pferd wäre viel zu auffällig. Und zu teuer. Denk allein an Hafer, Heu, Stallunterbringung oder Brückengelder.»
«Drei Monate?», wiederholte Johannes.
Jordanus sah seinen Schützling amüsiert an.
«Ganz ohne eigenes Dazutun geht es nicht», sagte er. «Du hast eine lange Reise vor dir. Aber das ist kein Grund zur Beunruhigung. Es gibt durchaus Möglichkeiten, sie zu beschleunigen. Man wird dir den Weg sicher erleichtern, wenn es möglich ist. Aber Genaueres ist mir nicht bekannt. Du solltest dich einfach darauf freuen, die Welt kennenzulernen.»
Johannes hatte den Novizenmeister aufmerksam beobachtet, und er kannte ihn bereits gut genug, um sein Lächeln als wissendes, kenntnisreiches zu deuten. Jordanus schien die Reise als beschwerlich einzuschätzen, war offenbar aber dennoch zuversichtlich.
«Hat man Euch auch einmal auf eine Reise geschickt?», wollte Johannes wissen.
«Das ist viele Jahre her.» Jordanus zögerte. «Doch meine Reise führte mich zu den Büchern.»
«Zu den Büchern? Wie meint Ihr das? Das hört sich fast so an, als hättet Ihr diese Reise bereut.»
«Nein.» Jordanus musste lachen. «Das bereue ich nicht.
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