Das Vermaechtnis des Will Wolfkin
Käpt’n wartet schon, er will ablegen.«
Es war noch dunkel. Ich hörte, wie im Rhythmus der trägen Hafenwellen Metall auf Metall klirrte. Der Himmel am Horizont hatte orangefarbene und blutrote Streifen. Das Licht schmerzte in meinen Augen. Als ich aus dem Auto stieg, ließ mich die kalte Morgenluft frösteln, und wieder war ich überwältigt von meiner neuen Fähigkeit, etwas zu spüren.
»Was du hier siehst, ist eine Gangway«, sagte Egil. »Ziemlich gnadenlos für einen Fußgänger, der gerade laufen lernt. Denk dran: links, rechts, links, rechts. Dass du schwimmen kannst, möchte ich mal bezweifeln.«
Egil lachte leise vor sich hin, und ich hatte das Gefühl, die Nähe von Hafen und Schiff bedeutete eine große Erleichterung für ihn. Als mich das grell orangefarbene Licht nicht mehr blendete, sah ich, dass er mich an Bord eines kleinen Fischerbootes führte, mit einem Stahlmast, einer großen Taurolle und Netzen im Heck.
Kaum hatten wir das Deck betreten, blieb Egil abrupt stehen und sah zum Kapitän hin, der halb in der Kajüte, halb davor stand und etwas in seiner Hemdtasche zu suchen schien. Egil nickte ihm zu, dann legte er den Finger an die Lippen. Der Kapitän sah Egil einen Moment an und nickte dann kaum merklich zurück.
Wir warteten, bis der Kapitän eine kleine Tabakspfeife in seiner Hemdtasche gefunden hatte, die er anschließend bedächtig stopfte. Er war keine zwei Meter von uns entfernt, seine Streichholzflamme erhellte unsere Gesichter. Ich hatte den Eindruck, dass er uns bei diesem beiläufigen Pfeife-Anzünden unauffällig in Augenschein nehmen wollte. Er schien zufrieden mit dem, was er sah, und nachdem die Pfeife angezündet war, verschwand er wieder in die Kajüte und machte sich mit irgendwelchen Papieren zu schaffen.
»Warum redet er nicht mit uns?«, flüsterte ich. Egil führte mich vorsichtig über Seile und Netze hinweg zum Heck.
»Er kommt aus dem westlichen Teil von Island«, erklärte er. »Eine alte Menschenfamilie, die seit vielen Generationen mit den Fel zu tun hat. Mit bestimmten Menschen pflegen wir Fel nämlich Umgang.«
»Und du bist ein … Fel ?«, fragte ich. Er zwinkerte mir zu und grinste.
»Klar. Nur ein Fel kann Fel-Magie anwenden«, sagte er.
Bevor ich weitere Fragen stellen konnte, hob Egil eine Plane an, die hinten im Boot an Fässern festgebunden war. Er bedeutete mir, darunterzukriechen, und gleich darauf kam er nach.
Der Bootsmotor fing an zu tuckern. Ich spürte, wie die Deckplanken unter mir zitterten und wie sich das Boot rückwärts von seinem Anlegeplatz löste. Ich hörte die schweren Schritte von Stiefeln auf dem Deck und das wilde Klirren am Mast, wenn Taue und Flaschenzüge sich im Wind bewegten. Ich roch die berauschende Mischung aus Seeluft, Benzin, Teer und verfaultem Fisch, sogar eine Spur Tabakrauch konnte ich in dem starken Wind ausmachen.
Seit meiner Geburt hatte ich mehr oder weniger unter einer Dunstglocke aus Hausgerüchen gelebt. Kohl, Desinfektionsmittel, Mäuse, verbrauchte Luft. An diesen Ozeangerüchen dagegen war etwas Grenzenloses, Abenteuerliches, sie brachten in meinem Kopf etwas zum Vibrieren, das ich unglaublich aufregend fand. Als ich spontan aufsprang, um tief einzuatmen, stieß ich mit dem Kopf gegen das Fass über uns. Egil sagte, ich solle still sitzen bleiben, und hielt mich vorsichtshalber an der Hand. Nach etwa einer Stunde wurde es hell und Egil hob die Plane an, damit wir über die Heckreling ins schäumende Kielwasser schauen konnten.
Vom Land war längst nichts mehr zu sehen.
4. Kapitel
D en ganzen Tag blieb die See ruhig, nachts aber kam Sturm auf. Weder Mond noch Sterne waren zu sehen, kein Land und kein Horizont, und die Wogen schlugen krachend über unserer Schutzplane zusammen. Mit tropfnassen, salzigen Händen klammerten Egil und ich uns an die befestigten Teile des Boots. Je heftiger der Wind wehte, desto dicker und wärmer wurde mein Pelzmantel, und ich konnte spüren, wie ein mysteriöses Leben darin pulsierte.
Als der Sturm noch mehr zunahm, lauschte Egil angestrengt dem Ächzen der Takelage und imitierte die unheimlichen und klagenden Töne. Nach einer Weile erschienen mir die leisen Klänge, die er von sich gab, wie Wörter einer fremden Sprache. Offenbar versuchte Egil, die Worte zu verstehen, indem er sie wiederholte – wie jemand, der bei schlechter Telefonverbindung wichtige Anweisungen zu verstehen sucht.
Schließlich knöpfte Egil seine dünne schwarze Jacke zu und sagte, er müsse
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