Das Vermaechtnis des Will Wolfkin
Mützen ab und murmelten einen Gruß, den Egil erwiderte. Ich spürte, wie der Pelz auf meine Angst reagierte und sich enger um mein Gesicht schmiegte. Doch die Begegnung auf dem Treppenabsatz verlief ohne Zwischenfall. Während die Fel-Jäger an uns vorbeigingen, sah ich, wie klein sie waren und wie runzelig und zerfurcht ihre Gesichter.
Fast wie Kobolde oder Elfen, dachte ich. Egil kramte eine Pelzmütze aus seinem Mantel.
»Zieh die hier an«, sagte er. »Du bist zwar ein Junge, aber bei deiner Größe wirst du als erwachsener Fel durchgehen. Wenn dich jemand fragt, sagst du, du bist 785 Jahre alt und ›von der anderen Seite‹. Jeder hier ist entweder von der einen oder von der anderen Seite, wenn du also sagst, du bist von der anderen Seite, ist das für alle zufriedenstellend.«
»Wie viele Seiten gibt es?«, flüsterte ich.
»Nur zwei. Die helle und die dunkle. Sie kommen nicht immer miteinander klar. Im Gegenteil, es ist …«
Plötzlich entdeckte Egil eine Fledermaus, die friedlich an einem der Schälchen voll Walrosstran hing. Instinktiv grapschte er danach, führte die Fledermaus zum Mund und wollte sie verschlingen. Ich griff nach seiner Hand, um ihn daran zu hindern, aber er brachte es nicht fertig, das Tier loszulassen. Stattdessen tat er, als wolle er es nur neugierig betrachten.
»Wo bin ich stehen geblieben?«, fragte er barsch. Dabei starrte er gebannt auf die wild flatternde Fledermaus in seiner Hand und leckte sich die Lippen.
»Du hast mir von der hellen und der dunklen Seite erzählt«, sagte ich.
»Ah ja … verstehst du, das Licht, das wir hier unten haben, kommt durch die Eisdecke. Auf der einen Seite des Gletschers ist aber die Schneeschicht dünner als auf der anderen, deshalb ist das Eis dort klarer …«
Während das Leben der bedauernswerten Fledermaus am seidenen Faden hing, vergaß Egil offenbar Doktor Felmans Ermahnungen. Verträumt sprach er weiter.
»… und so kommt es, dass die eine Seite unserer Welt hell und die andere dunkel ist.«
Er legte den Kopf schräg.
»Also diese ganze Lauferei hat mich dermaßen hungrig gemacht …«
Schon riss Egil den Mund auf und wollte tatsächlich von der Fledermaus abbeißen. Ich glaube, diesen Anblick hätte ich nicht ertragen.
»Vorsicht! Sie schmecken wie Ledersandalen!«, rief ich hastig. Da kam Egil endlich zur Vernunft, er drehte sich nach mir um und ließ die Fledermaus los, die unter hektischem Geflatter das Weite suchte.
»Gut erinnert, Tobes«, sagte er und wischte sich die Hände ab, dann setzte er den Abstieg über die Eistreppe fort.
Allmählich wurden die Stufen flacher und statt aus Eis waren sie jetzt aus Stein. Wir kamen auf eine Galerie, von der aus man die mir unbekannte neue Welt gut überblicken konnte. Zu Egils Bestürzung blieb ich unwillkürlich stehen und starrte verwundert hinab.
»Mund zu! Mütze tiefer ins Gesicht! Und schau doch nicht wie ein hypnotisiertes Kaninchen«, zischte er durch die Zähne.
Vor mir lag eine ganze Stadt. Lichtstrahlen fielen durch die Oberfläche des Gletschers, und als ich den Kopf in den Nacken legte, sah ich weit, weit oben mächtige Eisfenster, die, weil sie nur von einer dünnen Schneeschicht bedeckt waren, das Tageslicht durchließen. Breite Bündel Sonnenlicht trafen auf das Eis und ließen es in unzähligen Gelbtönen funkeln. Das Resultat war, dass die Welt dort unten strahlend lebendig wirkte, die Farben heller und leuchtender als alles, was ich auf der oberen Welt je gesehen hatte.
Auf der einen Seite der Stadt erstreckte sich, so weit das Auge reichte, offenes Land in gelb schimmerndem Licht. Egil erklärte, das sei der Osten. Da waren Wälder und sonnenbeschienene Berge, überragt von einem gewaltigen, in blau schimmerndes Licht getauchten Gipfel, das aus dem Berg selbst zu kommen schien. Im Süden der Stadt konnte ich ein riesengroßes Schloss erkennen, das wie ein lebender Organismus wirkte, der aus der Flanke eines anderen Berges gewachsen war.
Im Westen dagegen, wo die Schneeschicht auf dem Gletscher viel dicker war, lag über allem ein unheimliches Halbdunkel bis zum Horizont.
Ich entdeckte nichts, was elektrisch funktionierte, aber es gab überall fließende Rinnsale von rot und weiß glühender Lava, die Hitze und warmes Licht ausstrahlten. Die Straßen und damit auch die Häuser und Geschäfte waren um die Lavaströme herum angelegt. Die Gebäude aus schieferfarbenen Steinen hatten die unterschiedlichsten Formen. Überall in der Stadt stiegen aus
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