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Das Vermaechtnis des Will Wolfkin

Das Vermaechtnis des Will Wolfkin

Titel: Das Vermaechtnis des Will Wolfkin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Knight
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genau«, sagte er. »Komische Vorstellung, was? Stimmt aber.«
    Er verbeugte sich wie ein begnadeter Künstler.
    »Ich denke, ich habe euch schon gesagt, dass ich nun mal gewisse natürliche Gaben besitze. Und Großvater hat mich gebeten, euch mit einer davon vertraut zu machen. In der heutigen Unterrichtsstunde wird es also um den Gebrauch der Clanzeichen gehen … und auch um eine damit verwandte Kunst, nämlich die Kunst der Verwandlung.«
    Dieses Wort ließ das Lächeln auf Emmas Gesicht verschwinden. Ich beobachtete sie, während Egil weitersprach.
    »Ihr müsst wissen, die Clanzeichen sind Tore in eine Welt, in der ihr eure Gestalt ändern könnt. Für mich zum Beispiel sind diese Verwandlungen so selbstverständlich wie das Atmen.« Er reckte das Kinn. »Passt auf, ich zeige es euch …«
    »Warte mal!«, sagte ich. Egil sah erst mich, dann Emma an.
    »Gibt’s ein Problem?«
    Emma schlug die Fäuste aneinander, aber ich antwortete für sie. »Ja.«
    »Nein!«, rief Emma energisch.
    Ich drehte mich zu ihr um. Sie hatte so laut gesprochen, dass es nicht nur Egil, sondern auch der halbe Gletscher gehört haben musste. Es war, als wolle sie der Welt ihren neuen Vorsatz verkünden.
    »Letztens, im Intuitionsunterricht, als ich der Blume meine Lebensgeschichte erzählte, habe ich etwas begriffen«, sagte Emma. »Ich habe meinen Vater sehr geliebt. In meinen Träumen hat er mich oft besucht, und ich erkenne erst jetzt, dass er mir immer geholfen hat. Die Leute, die ihn umgebracht haben, sind dämliche Hohlköpfe. Ich bin stolz auf meinen Vater. Sich zu verwandeln kann etwas Böses, aber auch etwas Gutes sein.«
    Egil machte ein etwas ratloses Gesicht und schien irritiert, weil seine Vorführung ins Stocken geraten war.
    »Kann ich jetzt also weitermachen?«, fragte er.
    Emma nickte entschieden.
    »Ja, zeig es uns.«
    Ohne weitere Ankündigung sprang Egil in die Luft und drehte sich um sich selbst. Seine Konturen wurden allmählich unscharf und ein eigenartiges Sirren hing in der Luft.
    Als die Drehungen langsamer wurden, sah ich, dass wir es gar nicht mehr mit Egil zu tun hatten. Zuerst waren mächtige Pranken zu sehen, dann Stoßzähne, dann wilde gestreifte Haarbüschel und tiefgrüne Augen, und zuletzt ertönte ein Gebrüll, das die Erde erzittern ließ. Schließlich kippte die immer noch kreiselnde Gestalt nach vorn, stürzte, und als sie auf dem Boden aufkam … war aus Egil ein Säbelzahntiger geworden!
    Ich fuhr zurück. Die Bestie brüllte mich ein zweites Mal an und bleckte dabei ihre gewaltigen Säbelzähne. Sie verzerrten das Maul und ließen die Augen scheußlich aus den Höhlen treten. Schwester Mary hatte mir oft Bilder dieser urzeitlichen Tiere gezeigt, aber das hier lag bestimmt weit jenseits der Vorstellungskraft eines Buchillustrators. Der Säbelzahntiger war wunderschön anzusehen mit seinen Streifen, die sich wie glühendes Gold über den Rücken und den starken Schwanz zogen. In meinen ausgedachten Kämpfen auf dem Mond hatte sich Shipley oft in einen Säbelzahntiger verwandelt, aber so großartig war er in meinen Träumen längst nicht gewesen.
    Ich hatte den imposanten Anblick des Tigers noch kaum richtig erfasst, als er sich auf die Hinterläufe stellte und wieder anfing, sich um sich selbst zu drehen. Die Pranken und die gestreiften Beine streckten und dehnten sich und wurden jetzt zu Flügeln, die Säbelzähne vereinigten sich zu einem leuchtend gelben Schnabel und dann … tauchte aus dem Luftwirbel ein schwarz-weißer Adler auf, schlug heftig mit den Flügeln und schickte heisere Schreie zum Himmel.
    Staunend sah ich, wie der Adler sich wiederum verwandelte und zum Bär und danach zum Elch wurde. Es war eine so schillernde und ungewöhnliche Vorstellung, dass ich kaum mit Schauen nachkam. Endlich erschien die kleine schwarze Katze, die ich als Shipley kannte. Aber schon machte sie einen Buckel, streckte die Beine und verwandelte sich wieder in Egil. Egil, der Bizarre. Egil, der auf einmal der Großartige war.
    Er holte kurz Luft und wischte sein Gewand ab.
    »Ganz einfach, wenn man es erst mal raushat«, sagte er lässig.
    Emma hatte ihm mit großen Augen zugesehen, machte aber zu meiner Überraschung keinen verängstigten Eindruck. Im Gegenteil, sie schien sogar sichtlich angetan von der Vorführung. Ich fand erst nach einer Weile den Mut, auf Egil zuzugehen und ihn zu berühren, um mich von seiner Echtheit zu überzeugen.
    »Wie machst du das?«, fragte ich.
    »Du kannst es auch«,

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