Das Vermächtnis von Thrandor - Das Schwert aus dem Feuer
Derra in den nächsten zwei Minuten nicht auftaucht, werden wir jemanden
schicken, der nach ihr sucht. Bis dahin verhalten wir uns ruhig, wie es sich für echte Soldaten geziemt.«
Stille legte sich über die Wartenden. Die Sekunden verstrichen. Calvyn ging im Kopf verschiedene Möglichkeiten durch. Derra könnte krank sein, aber dann hätte man ihnen Ersatz geschickt. Sie könnte verschlafen haben, was aber höchst unwahrscheinlich war. Dann fiel Calvyn auf einmal ein, dass er den ganzen Morgen noch keinen Korporal oder Sergeanten gesehen hatte. Normalerweise saßen ein paar von ihnen beim Frühstück, aber er erinnerte sich nicht, einem einzigen Vorgesetzten begegnet zu sein. Also war nicht nur Derra zu spät. Es musste etwas geschehen sein, das alle Offiziere betraf. Calvyn lief ein Schauder über den Rücken. Es war etwas Schlimmes, das spürte er.
Gerade als die zwei Minuten vorüber waren, tauchte Korporalin Derra mit mehreren anderen Korporalen auf. Sie bogen um die Ecke des Stallgebäudes und schritten auf die Burgtore zu.
»Stillgestanden!«, befahl der ältere Soldat, der vorher für Ruhe gesorgt hatte.
Derra nickte ihren Begleitern zum Abschied zu und die Korporale teilten sich auf und liefen in verschiedene Richtungen. Mit einer tiefen Stirnfalte und ernstem Blick trat Derra ihrem Trupp entgegen und befahl den Soldaten, sich zu rühren.
»Leute«, setzte sie an und holte noch einmal tief Luft, »wir werden heute nicht auf Patrouille gehen. Aber es gibt genug zu tun. Heute Abend ziehen wir in den Krieg.«
Mehrere Soldaten stockte beim Wort »Krieg« hörbar der Atem. Nicht aber Calvyn. Nicht zufällig hatte Derra ihm und Jenna in die Augen geblickt, während sie die Neuigkeit verkündete. In Calvyns Bewusstsein blitzte das Gesicht der alten Wahrsagerin auf dem Markt auf.
»Der Heilige Krieg«, keuchte er.
»Gegen wen führen wir Krieg?«, fragte einer der erfahrenen Kämpfer verwundert. »Ich dachte, der König sei nicht willens, Shandar wegen der Plünderungen den Krieg zu erklären.«
»Wir kämpfen auch nicht gegen Shandar. Unsere Gegner sind die Nomaden aus der Wüste Terachim«, antwortete Derra und sah erneut zu Calvyn und Jenna herüber. »Sie sind offenbar durch die Gebirgsspalte bei Kortag vorgedrungen, mit einem Heer von mehr als zwanzigtausend Mann. Gestern Abend ist ein Bote des Königs eingetroffen, der um Unterstützung gebeten hat, und der Baron stellt nun eine Truppe auf, die zu den Kämpfern im Süden stoßen soll. Wir haben also einige Vorbereitungen zu treffen und nur sehr wenig Zeit. Wir haben die Order, Verpflegungswagen zu beladen. Der erste wird gleich hier eintreffen. Ihr alle meldet euch in zehn Minuten beim Vorratslager. Noch Fragen?«
»Gehen alle mit nach Süden?« fragte jemand.
»So gut wie alle«, erwiderte Derra. »Nur zwei Trupps und die neuen Rekruten bleiben hier, um die Burg zu bewachen, aber der Baron selbst wird alle anderen in den Feldzug gen Süden führen. Sonst noch etwas?«
Niemand meldete sich.
»Also gut. Abtreten! Vorratslager. Zehn Minuten«, rief sie noch einmal.
Calvyn und Jenna tauschten einen bedeutungsvollen Blick und ein stummes Einverständnis blitzte zwischen ihnen auf. Die Wahrsagerin hatte recht gehabt. Es sollte Krieg geben. Er war schon da.
Der Rest des Tages verflog mit eifrigen Vorbereitungen. Durch das Tor rumpelten leere Wagen herein, die sich kurz darauf wieder hinausschleppten – beladen mit Verpflegung,
Waffen, Zelten, Decken, Rüstungen und allem möglichen Kriegsmaterial. Bis zum späten Nachmittag waren die Lager geleert, und die erschöpften Soldaten wurden zu einem frühen Abendessen zusammengerufen.
Calvyn hatte den Speisesaal noch nie so voll gesehen. Der Baron hatte alle Trupps von ihren Streifen und Wachposten in den umliegenden Dörfern und Städten abgezogen. Baron Keevans gesamtes Heer war versammelt, und es gab Dutzende Gesichter, die Calvyn noch nie gesehen hatte. Sie alle mischten sich in die wogende Masse besorgter und entschlossener Soldaten, die gemeinsam ein letztes Mahl einnahmen, bevor sie in den Kampf zogen.
Für Calvyn waren die Geschehnisse aufregend, aber auch Furcht einflößend. Mehr noch Letzteres, denn die Worte der alten Seherin auf dem Markt suchten seine Gedanken heim. Immer wieder hörte er die krächzende Stimme kreischen: »Die Macht des Auserwählten wird dich brennen lassen. Ich sehe, wie sein heiliges Feuer deine Hände verschlingt. Das Schwert wird brennen.« Das irre Lachen der alten
Weitere Kostenlose Bücher