Das Vermächtnis von Thrandor - Der Auserwählte
versuchte den Knopf zu erreichen, mit dem sich die Vitrine von der Wand wegschieben ließ. Vallaine war erst vor einer Stunde gegangen und würde wohl heute Nacht nicht mehr zurückkehren.
Beim Gedanken daran, wie die Diener ihm in regelmäßigen Abständen von der ergebnislosen Suche nach dem Eindringling berichtet hatten – wobei Vallaine sich bei jedem Klopfen augenblicklich in den Kaiser verwandelt hatte -, musste Femke innerlich grinsen. Zum Glück verhalf ihr Lord Vallaine zu einem hervorragenden Grund für ihre Anwesenheit in Shandrim. Ständig hatte er den Namen Shanier vor sich hin gemurmelt, denn er war offenbar überzeugt, dass sich sein Erzfeind in der Stadt aufhielt. Wo sollte also Femke anders sein als in Shandrim, da der Kaiser sie losgeschickt hatte, Shanier aufzuspüren und zu töten? Für die Spionin eröffnete das unzählige neue Möglichkeiten, die sie unbedingt nutzen wollte.
Zuerst musste sie sich allerdings aus ihrem engen Gefängnis befreien, und das war, wie es sich herausstellte, gar
nicht so einfach. Da der Raum hinter der Vitrine so klein war, dass sich Femke nicht um die eigene Achse drehen oder hinunterbeugen konnte, kam sie nicht an den Knopf heran. Das Versteck war nicht dazu geschaffen, von innen geöffnet zu werden, denn normalerweise ließ man die Spione von außen hinein und nach getaner Arbeit auch wieder heraus.
Bei dem Versuch, an den Knopf zu gelangen, verrenkte sich Femke stöhnend und ächzend. Den Kopf nach oben und die Schulter nach unten gedreht, bückte sie sich, so tief es irgend ging, und tastete nach dem Knopf. Sie streckte die Finger aus, um an der Rückwand des Schrankes noch ein Stückchen weiter zu kommen, doch es hatte keinen Sinn. Sie erreichte den Knopf nicht.
Seufzend gab sie auf und machte sich an die nicht weniger schwierige Aufgabe, wieder eine einigermaßen bequeme aufrechte Haltung einzunehmen. Sie überlegte, mit welchem Hilfsmittel sie weiter hinunterreichen konnte. Das Einzige, was ihr einfiel, war der Dietrich, mit dem sie das Türschloss geknackt hatte. Falls er brach, säße sie, ihrem Miniaturgefängnis entflohen, im Arbeitszimmer fest und würde auf direktem Weg in eine richtige Zelle wandern. Doch da sie keine andere Möglichkeit sah, zog sie das Werkzeug vorsichtig aus der Tasche und nahm den kleinen Holzgriff zwischen Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger der linken Hand.
Die Verrenkungen wiederholend, beugte sich Femke hinunter, so weit es ging, und tastete mit dem Dietrich nach dem Knopf. Als sie schon glaubte, er sei noch immer außer Reichweite, spürte sie an der Rückwand der Vitrine etwas hervorstehen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht drückte sie mit dem Metallhaken auf den Knopf, doch der Druck reichte einfach nicht aus.
Femkes Körper schmerzte von oben bis unten, und sie wusste, dass sie diese verkrampfte Haltung nicht lange würde beibehalten können. Mit letzter Kraft presste sie den Holzgriff des Werkzeugs gegen die Rückwand, sodass er ihr als Hebel diente, und drückte mit dem Mittelfinger auf den Metallhaken.
Femke liefen vor Anstrengung die Tränen über die Wangen, doch endlich macht es Klick, die Vitrine schwang zur Seite und Femke fiel, mittlerweile zitternd vor Angst und Schwäche, aus ihrem Versteck. Es gelang ihr gerade noch, sich abzufangen, ehe sie gegen die Seitenwand der Vitrine knallte. Zum Glück war im Schrank nichts kaputtgegangen und auch der Lärm hielt sich in Grenzen. Femke sammelte sich kurz, schob dann den Schrank vorsichtig zurück und trat zum Schreibtisch des Kaisers, um noch einen letzten Blick darauf zu werfen.
Sie prägte sich genau ein, wo was lag, und begann dann rasch, die Berichte durchzublättern. Die Beleuchtung war äußerst schlecht, da durch die Oberlichter, die auf den auch nachts mit Fackeln beleuchteten Flur gingen, nur wenig Licht fiel, und Femke tat sich schwer, Vallaines spinnenhafte Schrift zu entziffern. Das Einzige, was sie den Notizen sicher entnehmen konnte, war, dass er einen Überfall auf Thrandor plante. Der Grund dafür erschloss sich ihr nicht. Trotzdem hatte ihr das gewagte Abenteuer mehr Erkenntnisse gebracht, als sie sich erhofft hatte. Doch nun war es höchste Zeit, dass sie sich aus dem Staub machte.
Femke legte alles wieder so hin, wie sie es vorgefunden hatte, stieg auf einen Stuhl und spähte durch eins der Oberlichter in den Flur hinaus. Sie hatte befürchtet, dass ein Wachmann vor dem Arbeitszimmer des Kaisers säße, doch sie hatte Glück: Es war niemand zu
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