Das Vermächtnis von Thrandor - Der Auserwählte
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Ohne Zeitdruck öffnete Femke mit dem Dietrich in wenigen Sekunden das Schloss. Dabei hallte das Klicken des Riegels durch den stillen Raum. Vorsichtig zog sie die Tür auf und blickte in den Flur hinaus. Als sie sicher war, dass niemand etwas gehört hatte, schlüpfte Femke hinaus, zog die Tür hinter sich zu und verschloss sie wieder.
Femke kam der Gedanke, dass es selbst zu dieser späten Stunde verrückt wäre, in dieser Verkleidung den Palast verlassen zu wollen. Die Wahrscheinlichkeit, dass man sie bemerkte, war ziemlich hoch. Was also lag näher, stattdessen in ihr Zimmer im Palast zu gehen und dort zu übernachten? Es war zwar in einem anderen Gebäudeflügel, doch wenn sie unbeobachtet hinkam, konnte sie sich aus ihrem Schrank eine neue Verkleidung heraussuchen. Dort hatte sie auch Perücken, unter denen sie das kurze Haar verstecken konnte, und Schminke, mit der sie sich so verändern konnte, dass niemand sie mehr mit dem jungen Diener in Verbindung bringen würde, nach dem den ganzen Tag gesucht worden war.
Femke lief durch die stillen Korridore. An jeder Biegung machte sie halt und spähte vorsichtig um die Ecke. So gelangte sie unbemerkt in ihre Kammer. Als sie die Tür hinter sich geschlossen und verriegelt hatte, seufzte sie erleichtert auf und entledigte sich ihrer Kleider und des Leinenverbandes. Die Dienerlivree faltete sie sauber zusammen und verstaute sie ganz unten in einer Schublade. Nachdem sie sich passende Kleidung für den nächsten Tag herausgelegt hatte, fläzte sich Femke aufs Bett und sank nun, da die Anspannung und Aufregung des Tages von ihr abfiel, in einen tiefen und traumlosen Schlaf.
»Perdimonn?«
»Ja, Calvyn?«
»Letzte Nacht ist etwas Merkwürdiges geschehen. Vielleicht hast du eine Erklärung dafür«, flüsterte Calvyn, damit ihn niemand anderes hörte.
»Was denn?«, fragte Perdimonn neugierig. »Inwiefern merkwürdig?«
»Na ja, es war ein Traum, oder zumindest glaube ich das. Ich habe geträumt, dass ich im Nachthemd vor dem Zelt stehe, aber mit meinem Schwertgurt um die Hüfte. Ich weiß noch, dass ich den Drang verspürte, das Schwert zu ziehen. Ich hielt es mit ausgestreckten Armen vor mir und arbeitete magische Formeln in die Klinge ein. Gleichzeitig dachte ich, dass sie im Grunde nichts zu bedeuten hatten. Ich komme aber einfach nicht darauf, was für Formeln genau das waren.«
»Ja, das ist schon etwas merkwürdig. Aber du hast selbst gesagt, dass es wahrscheinlich nur ein Traum war. Ich würde mir an deiner Stelle keine allzu großen Gedanken darüber machen«, beruhigte Perdimonn ihn mit einem freundlichen Lächeln. »Du stehst im Moment ziemlich unter Druck. Versuch, den Traum zu vergessen und dich auf deine Übungen zu konzentrieren.«
»Wenn das alles wäre, würde ich deinen Rat gern befolgen, Perdimonn. Aber da ist noch mehr. Am Ende jeder Formel glühte eine der Runen auf meinem Schwert kurz auf. Dann veränderte sie sich und verschwand schließlich ganz.«
»Aha. In Träumen geschehen die merkwürdigsten Dinge.«
»Ich habe mir mein Schwert gerade angesehen, Perdimonn. Die Runen sind weg. Es ist, als wären sie nie da gewesen. Dabei habe ich sie, als ich das Schwert das letzte Mal zog, klar und deutlich gesehen. Ich frage mich, ob ich
vielleicht gar nicht geträumt habe. Aber wenn ich das Schwert wirklich mit neuen magischen Formeln versehen habe, dann war es jedenfalls unbewusst. Vielleicht hat mich ja jemand dazu gebracht? Und wenn es so war, dann stellt sich doch die Frage, wer und warum?«
Calvyn zog sein Schwert und hielt es Perdimonn vor die Nase. Der alte Magier untersuchte stirnrunzelnd die Klinge.
»Nun, keine Frage, auf der Klinge sind keine Runen zu sehen«, gab Perdimonn zu. »Hat denn die Klinge noch dieselben Eigenschaften wie zuvor?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Calvyn angespannt. »Ich habe es noch nicht überprüft.«
»Dann mach das so schnell wie möglich und berichte mir, was du herausgefunden hast«, schlug Perdimonn vor. »Ich kann dir auch nicht erklären, was da letzte Nacht passiert ist. Aber falls sich seine Eigenschaften nicht verändert haben, dann spielt es doch eigentlich keine Rolle, oder?«
Calvyn dachte einen Augenblick darüber nach, die Stirn in tiefe Falten gelegt. »Das stimmt wohl. Aber mir gefällt die Vorstellung nicht, dass jemand mich gegen meinen Willen steuert. Vielleicht war es ja Selkor? Wenn er mich nun dazu gebracht hat, das Schwert mit einer seiner Formeln zu belegen? Dann
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