Das Vermächtnis von Thrandor - Der Pfad der Jägerin
Hörweite ist. Stülpt ihm den Sack wieder über und bringt ihn in die Zelle«, wies der Lord die Wachen an.
»Wartet!«, rief Calvyn überrascht aus. »Was habt Ihr mit mir vor? Warum darf ich nichts sehen, warum werde ich gefesselt?«
Doch da nahm ihm der Sack schon wieder die Sicht und er wurde auf die Füße gezerrt. Gegenwehr war zwecklos, dennoch konnte Calvyn nicht widerstehen, sich dem Griff der Wachen zu entziehen. Ein Schlag in die Nieren raubte ihm den Atem und den Gedanken an jeden weiteren Widerstand.
»Und Wachen – sagt eurem Hauptmann, er kann die Überfälle einstellen. Sie haben ihren Zweck erfüllt«, fuhr die Gestalt auf dem Thron fort. »Nein … wartet. Einen Überfall müssen wir noch machen, einen ganz bestimmten. Ich will eine Handvoll Gefangene aus seiner Truppe haben. Vielleicht brauche ich sie noch.«
»Sehr wohl, Mylord«, erwiderte der ältere der beiden Wachmänner.
Die Lords des Inneren Auges verfolgten unbewegt, wie Calvyn abgeführt wurde. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, da nahm der Anführer seine Kapuze ab. Die anderen folgten seinem Beispiel. Umgehend setzte eine erhitzte Auseinandersetzung ein.
»Hoher Lord Vallaine, Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass dieser Junge die Macht hat, unsere Streitkräfte zum Sieg zu führen? Und das gegen seine eigenen Leute«, sagte einer.
»Habt Ihr ihn Euch angesehen? Er ist seinem Land treu ergeben. Es wird schwer sein, ihn für unsere Sache zu gewinnen«, warf ein anderer ein.
»Der wird unsere Streitkräfte doch nicht gegen sein Land führen, nur damit wir das Leben von ein paar Geiseln verschonen. Warum auch? Damit würde er ja mehr Menschen dem Untergang preisgeben als retten.«
Auch andere erhoben die Stimme. Alle Kommentare waren ablehnend oder zumindest kritisch. Der Alte auf dem Thron saß schweigend da und richtete seine tief liegenden, von Runzeln eingerahmten Augen mit einem belustigten Funkeln auf den jeweiligen Sprecher. Nach und nach verstummten die Lords unter seinen Blicken. Er verzog den dünnlippigen Mund zu einem spöttischen Lächeln.
»Ich frage Euch noch einmal: Stellt Ihr meine Hellsicht infrage? Hat sie denn in der Vergangenheit je versagt? Wir haben unsere Macht erlangt, indem wir meine Voraussagungen
weise genutzt haben, und ich sage Euch noch einmal, was ich gesehen habe: Dieser junge Mann wird unsere Streitkräfte nach Thrandor führen und sie werden siegreich sein. Das habe ich in jeder Vision gesehen, die ich hatte. Ob Ihr es glaubt oder nicht, dieser junge Soldat wird den Fall Mantors herbeiführen. Es wird nicht einfach werden. Auch wenn der König und seine Truppen im Süden damit beschäftigt sind, die Nomaden aus Kortag zu vertreiben, wird die Bevölkerung von Mantor trotzdem erbitterten Widerstand leisten. Aber die Vision ist eindeutig: Dank dieses jungen Mannes wird Mantor uns gehören.«
Der alte Mann blickte in die misstrauischen Mienen der anderen Lords.
»Ist denn wirklich keinem von Euch aufgefallen«, fuhr Vallaine fort, »wie klar sein Geist ist? Der Junge mag etwas von Magie verstehen, doch sein Verstand ist für die Zauberei wie geschaffen. Mit der richtigen Ausbildung könnte er bald mächtiger sein als jeder von uns, die wir in diesem Raum versammelt sind. Schon jetzt verfügt er über ein bewundernswertes Maß an geistiger Disziplin. Wer von Euch konnte das von sich behaupten, bevor er in die Zauberei eingeführt wurde?«
Niemand antwortete.
»Das dachte ich mir. Die Vision hat mir nicht gesagt, wie wir ihn dazu bringen, uns zu unterstützen. Doch ich glaube zu wissen, wie wir vorgehen müssen. Ihr habt recht, Cillverne, es wird nicht leicht. Wir werden auf ungewöhnliche Mittel zurückgreifen müssen.«
»Mylord?«, fragte Cillverne und brachte damit die Verwirrung aller zum Ausdruck. »Was meint Ihr mit ungewöhnlichen Mitteln?«
»Wir werden ihn nicht mit Zauberei gewinnen können. Die Kraft der Illusion und die Macht über den Geist eines
anderen haben ihre Grenzen und erfordern unablässige Anstrengung und Entschlossenheit. Uns einen so starken Geist dauerhaft zu unterwerfen, übersteigt unsere Kraft. Daher habe ich beschlossen, Barrathos mit der leidigen Aufgabe zu betreuen.«
»Den alten Hexenmeister? Ist der denn noch am Leben?«
»Durchaus, Torvados.«
»Aber, Mylord, ich verstehe nicht, wie die Hexerei uns weiterhelfen sollte. Was würde es nützen, einen Dämon oder Geist heraufzubeschwören? Wollt Ihr den Jungen einschüchtern, damit er tut, was
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