Das Vermächtnis von Thrandor - Der Pfad der Jägerin
sie schon eine Weile von ihrer Einheit getrennt. Wahrscheinlich, überlegte Shanier, hielt man diese Soldaten schon seit Wochen in den unterirdischen Zellen gefangen.
Die fünf blickten die zwölf Gestalten in den Umhängen, die im Halbkreis um sie herumsaßen, mit großen Augen an. Obwohl ihnen wohl klar war, dass sie mächtige Zauberer
vor sich hatten, wirkten sie nicht übermäßig verängstigt.
»Calvyn? Korporal Calvyn? Bist du das wirklich?«
Shanier verbarg mit aller Macht das Hochgefühl, das in ihm aufwallte. Calvyn! Das war der Name, der ihm die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte. Er fügte sich hervorragend in das Mosaik der Erinnerungen ein. Die Freude darüber drohte die geistigen Schutzmauern, die Shanier mit so viel Mühe errichtet hatte, einzureißen.
»Lord Vallaine, wünscht Ihr, dass ich dieser … Person … antworte?«, fragte Shanier mit ausdrucksloser Stimme.
»Ja bitte, Lord Shanier«, erwiderte der Hohe Lord höflich.
Shanier stand auf, ging langsam zu den Soldaten hinüber und stellte sich vor sie hin.
»Calvyn! Du bist es! Bitte, kannst du uns hier rausbringen? Die halten uns seit Wochen gefangen, vielleicht schon seit Monaten, das ist schwer zu sagen, wenn man ständig im Dunkeln ist. Soffi ist gestorben, weil sie ihre Wunden nicht behandelt haben, und wir konnten ihr nicht helfen. Am Ende hatte sie keine Kraft mehr und hörte einfach auf zu atmen. Aber bei Tarmin, es ist so schön, dich zu sehen, Calvyn.«
Garath, dachte Shanier, der Mann heißt Garath. Er hat mit mir die Ausbildung gemacht. Nach außen hin zeigte Shanier jedoch keine Anzeichen des Wiedererkennens, und auch im tiefsten, abgeschlossenen Teil seines Inneren weigerte er sich, sich selbst als Calvyn zu begreifen. Kein leichtfertiger Gedanke, kein unüberlegtes Wort durfte ihm herausrutschen.
»Ich fürchte, du täuschst dich. Ich heiße nicht Calvyn und ich bin auch kein Korporal. Ich bin Shanier, Lord des Inneren Auges«, erklärte Shanier kalt. »Oder will einer von euch
meinen Namen oder Titel in Zweifel ziehen?«, fügte er drohend hinzu.
Keiner der Gefangenen antwortete. Dann sagte Garath: »Nein, Lord«, obwohl er ganz offenkundig anders dachte.
»Das ist vernünftig«, erwiderte Shanier und wendete sich Lord Vallaine zu.
Das also war der Anlass für die Zusammenkunft gewesen. Shanier war stolz auf sich: Es war ihm nicht nur gelungen, vor den anderen Zauberern zu verbergen, dass er die fünf Soldaten kannte, sondern er hatte auch seinen wahren Namen erfahren, ohne dass jemand etwas bemerkt hatte.
Das traurige Häuflein hatte seinen Zweck erfüllt und war nun entbehrlich.
»Ihr hattet recht, Lord Vallaine. Das war eine interessante Begegnung. Doch weiß ich nichts über diese Leute. Sie bedeuten mir nichts. Muss ich noch etwas tun? Wünscht Ihr, dass ich in ihren Geist eindringe und erkunde, warum sie fälschlicherweise behaupten, mich zu kennen?«
Lord Vallaine lächelte und blickte in die Runde.
»Seid Ihr zufrieden, Lords des Inneren Auges? Seid Ihr jetzt damit einverstanden, dass er die Aufgabe wie besprochen übernimmt? Wer Einwände hat, möge sich von seinem Platz erheben.«
Es folgte eine kurze Pause, dann standen zwei Lords auf.
»Sehr wohl. Die Mehrheit ist dafür, daher werden wir vorgehen wie geplant. Lord Cillverne, Lord Dakreth, Euer Widerspruch ist zur Kenntnis genommen. Lord Cillverne, Ihr werdet Lord Shanier begleiten und darüber wachen, dass er seine Mission gewissenhaft erfüllt. Wird das auch Euch besänftigen, Lord Dakreth?«
»Jawohl, Mylord«, erwiderte Dakreth, nahm wieder Platz und lächelte dem glücklichen Cillverne verkrampft zu.
»Gut«, sagte Vallaine zufrieden. Er schien jede Sekunde
des Kampfes zwischen den rangniederen Lords zu genießen. »Nun, Shanier. Was sollen wir mit den Gefangenen machen?«
»Tötet sie, Mylord«, sagte Shanier lässig. »Es sei denn, sie sind noch zu etwas zunutze.«
Die Antwort gefiel dem Hohen Lord und auch die anderen warfen ihm anerkennende Blicke zu. Einer der Gefangenen stöhnte.
»Ich wüsste nicht so recht, wofür. Fällt Euch etwas ein?«, fragte Vallaine.
Shanier dachte einen Moment nach.
Es konnte sich um einen weiteren Test handeln, daher ließ er sich Zeit und überlegte. Er hegte keinerlei Gefühle für die Gefangenen, es schien ihm jedoch unlogisch, sie einfach so umzubringen.
»Mylord, ihren Uniformen nach zu urteilen, sind diese Leute Berufssoldaten. Warum nutzen wir nicht ihre Fähigkeiten? Ich schlage vor, dass Ihr
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