Das Vermächtnis von Thrandor - Der Pfad der Jägerin
angewidert die Nase, als ihr der Geruch von Urin und Erbrochenem in die Nase stieg. Der Raum wurde wahrscheinlich als Arrestzelle für randalierende Saufbrüder benutzt. Das Klappern des Schlüssels im Schlüsselloch machte ihr unmissverständlich klar, dass sie hier nicht so schnell wegkam.
Jenna fand kaum Schlaf in dieser Nacht. In den kurzen Phasen, in denen sie wegdöste, verfolgten sie düstere Träume von orangerot leuchtenden Augen und wütenden Menschen, die nach ihrem Blut lechzten. Die Nacht wollte kein Ende nehmen.
Am nächsten Morgen wurde Jenna von mehreren Dorfbewohnern befragt. Es war niederschmetternd, denn die Leute hatten ihr Urteil bereits gefällt. Jenna versuchte, ihnen eine Geschichte aufzutischen, die glaubhaft und möglichst nah an der Wahrheit war, hatte damit aber wenig Erfolg. Am Ende brach der Schmied, ein stämmiger, dunkelhaariger Mann, den die anderen Cal nannten, das Verhör ab. Er schien angewidert von seinen Mitbürgern.
»Keine Bange«, sagte Cal, »morgen kommt ein Gendarm und der ist unvoreingenommen. Ich habe Dolbans Leiche gesehen und kann mir nicht vorstellen, dass irgendein menschliches Wesen ihm diese Wunden hätte zufügen können.« Er wollte sie wohl trösten, doch seine Worte spornten Jenna dazu an, sich nun eingehend mit der Flucht zu befassen.
Ihre Waffen hatte man ihr weggenommen, der Raum war abgeschlossen und bewacht, und sie wusste, dass sie bis zum Eintreffen des Gendarms weniger als einen Tag Zeit hatte.
Doch dann kam ihr das Glück zu Hilfe.
Niemand im Dorf hatte von dem Vorfall im Lustigen Landmann gehört. Nur so war es zu erklären, dass man bloß einen Mann zu ihrer Bewachung abgestellt hatte.
Als der Wachmann ihr am Abend das Essen brachte, war er völlig arglos. Jenna tat er hinterher leid, denn er hatte keinerlei Chance gegen sie und sie wollte sich gar nicht erst ausmalen, welche Vorwürfe ihm die anderen Dorfbewohner gemacht hatten, als sie ihr Verschwinden bemerkten.
Als der Mann ihr das Essen brachte, krümmte sich Jenna stöhnend am Boden und hielt sich den Bauch. Der besorgte Wachmann stellte das Tablett neben der Tür auf dem Stuhl ab und eilte an Jennas Seite, um nachzusehen,was ihr fehlte. Als er sich über sie beugte, rollte sich Jenna auf den Rücken und streckte den Mann mit einem Fausthieb gegen die Kehle nieder, gefolgt von einem kräftigen Haken an die Schläfe.
Der zweite Schlag war nicht so kräftig wie beabsichtigt, doch beide zusammen brachten das erwünschte Ergebnis. Jenna sprang auf die Füße und schickte den Wachmann mit einem beidhändigen Hieb auf den Hinterkopf in die Bewusstlosigkeit.
Glücklicherweise war draußen, abgesehen vom Aufschlagen des Schwertheftes auf dem Holzfußboden, nichts von dem Kampf zu hören gewesen. Jenna rannte zur Tür und sah rasch nach rechts und links in den Flur. Es war niemand da. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, als sie den Bogen, den Köcher und den Gürtel samt Gürtelmesser vor der Tür liegen sah. Man hatte die Sachen wohl dort abgelegt, um sie am nächsten Tag dem Gendarm zu zeigen.
Jenna vergeudete keine Sekunde. Sie nahm dem Wachmann das Schwert ab, schlüpfte in den Flur, schnallte sich den Gürtel um und nahm Bogen und Köcher mit.
Den Geräuschen nach, die von rechts an ihr Ohr drangen, befand sich dort am Ende des Flurs der Schankraum
mit dem Tresen. Der Geräuschpegel verriet ihr, dass die Schänke an diesem Abend gut besucht war.
Jenna nahm daher den anderen Weg. Sie widerstand der Versuchung, eine der ersten Türen auf dem Gang zu öffnen, denn, so überlegte sie, je weiter sie sich vom Schankraum entfernte, desto geringer war die Gefahr, jemandem zu begegnen.
Wieder war das Glück auf ihrer Seite. Die Tür am anderen Ende des Flures entpuppte sich als Hinterausgang zum Stall. Zum Öffnen brauchte sie keinen Schlüssel, denn die Tür war nur mit einem Riegel verschlossen. Sekunden später war Jenna schon im Hinterhof neben dem Stall, flitzte von einer Deckung zur nächsten und verschwand im Schutz der Bäume.
Sie brauchte einen Moment, um sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, doch dann rannte sie zu dem Felsen, unter dem sie ihre Habseligkeiten versteckt hatte.
Rasch setzte sie den Rucksack auf, befestigte die Taschen am Gürtel, ließ sich vom Talisman den Weg weisen und marschierte in die Nacht hinein. Als sie die erste Rast machte, kündigte sich am östlichen Horizont bereits die Morgendämmerung an.
Das Schwert, das Jenna dem Wachmann abgenommen hatte, war
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