Das Vermächtnis von Thrandor - Die silberne Klinge
als Zeugen,
falls Meister Jabal etwas Unüberlegtes und Ungerechtfertigtes tun würde.
»Ah, der junge Calvyn«, begrüßte Jabal ihn und schien kein bisschen überrascht, ihn zu sehen. »Warum bist du nicht in Cheverys Unterricht? Hast du ihn derart enttäuscht, dass er dich zu mir zurückgeschickt hat?«
»Nicht gerade enttäuscht, Meister Jabal«, erklärte Calvyn verzagt. »In blankes Entsetzen gestürzt, trifft es wohl eher.«
»Wirklich?«, fragte Jabal, und seine Augen leuchteten vor Neugier. »Und er hat dich zu mir geschickt, damit ich ein Urteil spreche, nehme ich an?«
»Ja, Meister, ich glaube schon. Er sagte, ich solle Euch berichten, was ich getan habe, und dann würden wir sehen, ob Ihr immer noch der Meinung wärt, ich solle seine Kurse besuchen.«
»Dann erzähl mir, womit du Meister Chevery so verärgert hast. Es interessiert mich doch, wie es dir gelungen ist, so schnell zu mir zurückgeschickt zu werden, obwohl du so vielversprechend wirktest.«
Calvyn erklärte, was passiert war, und rechnete damit, dass nun gleich ein Sturm losbrechen würde. Mit eingezogenen Schultern erwartete er den unvermeidlichen Gefühlsausbruch. Doch es kam nichts dergleichen. Jabal überraschte ihn stattdessen mit nachdenklichen, wenn auch Neugier verratenden Fragen.
»Zauberei, sagt du? Jetzt verstehe ich. Kein Wunder, dass deine mentale Bildsprache so klar ist und deine gedankliche Kraft für dein Alter so gut entwickelt. Eine Ausbildung bei Zauberern erklärt natürlich alles. Und wie kommt es, dass Perdimonn dich hier empfiehlt, wenn du doch bei Zauberern gelernt hast?«
Calvyns Gedanken kreisten wie wild in seinem Kopf, und er versuchte, sich darüber klar zu werden, wie viel er Jabal erzählen konnte. Sollte er zugeben, dass er an den Lords des
Inneren Auges Verrat begangen hatte? Die Sekte der Zauberer war trotz allem shandesisch. Die Magierakademie berief sich zwar darauf, keinem Reich und keiner Nation zur Treue verpflichtet zu sein, befand sich aber seit Jahrhunderten ebenfalls in Shandar. Der Umstand, dass die Akademie hier schon so lange existierte, beeinflusste die Meister doch sicher.
Auf einmal wurde Calvyn bewusst, dass er schon viel zu lange überlegte. Großmagier Jabal würde nun sicher mit einer Lüge rechnen. Er konnte nur noch die Wahrheit erzählen.
»Ich bin nicht sicher, ob Perdimonn etwas von meiner Ausbildung bei den Lords des Inneren Auges wusste, als er mich empfohlen hat«, sagte Calvyn langsam. »Ich bin erst zu den Zauberern gestoßen, nachdem ich schon eine Weile von Perdimonn getrennt war. Es ist eine lange und verwickelte Geschichte, aber ich will sie Euch erzählen, wenn Ihr genug Zeit habt.«
Meister Jabal überlegte kurz und wollte gerade antworten, da schrillte im Innern des Gebäudes eine Glocke. Jabal runzelte die Stirn und schlug verärgert mit der flachen Hand auf die Tischplatte.
»Wollen die es einfach nicht kapieren?«, rief er verzweifelt.
»Was ist denn, Meister Jabal?«
»Einer dieser hirnlosen Adepten hat wieder einmal versucht, einen magischen Gegenstand in seinem Zimmer zu verstecken. Die lernen’s nie! Warte hier. Ich bin gleich wieder da.«
Der Großmagier stand auf und fegte aus dem Zimmer. Er bewegte sich so zielstrebig wie jemand, der in einer dringlichen Angelegenheit unterwegs ist, und seine festen Schritte reihten sich in andere Fußpaare ein, die ebenfalls über den Flur eilten. Wer auch immer diesen Alarm ausgelöst hatte, er hatte die Akademie in ein aufgeregtes Hornissennest verwandelt. Calvyn dachte inzwischen darüber nach, wo er mit seiner Geschichte beginnen sollte, wenn Meister Jabal zurück war. Die Störung war von Vorteil für ihn, denn falls er den Wunsch
hegte, Dinge zu verschweigen, dann hatte er jetzt die Möglichkeit, alles, was nicht ans Licht kommen sollte, tief in seinem Bewusstsein zu vergraben, bevor Jabal zurückkehrte.
Je mehr Calvyn über seine vergangenen Erlebnisse nachdachte, desto deutlicher wurde ihm aber, wie vergeblich das Bemühen war, seine Taten zu verschleiern. Jeder, der seine Sinne einigermaßen beisammenhatte, würde schnell merken, dass Calvyn nicht die ganze Wahrheit erzählte. Seine Geschichte war höchst eigenartig und enthielt vieles, was ein gewöhnlicher Mensch als Irrsinn abtun würde. Aber Meister Jabal war kein gewöhnlicher Mensch. Er war ein Großmagier, der wahrscheinlich mehr über die geheimen Künste wusste, als Calvyn jemals lernen konnte, und deshalb würde er ihm viel unvoreingenommener
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