Das verschollene Reich
blütenweiße Stoff braun verfärbt, und sobald die Lohen daran leckten, wurde er schwarz und krümmte sich und ging schließlich in Flammen auf.
Gebannt sah Kathan zu, wie der Wappenrock, den er mehr als zwei Jahrzehnte lang getragen hatte, ein Fraß der Flammen wurde. Und mit dem dunklen Rauch, der aus der leuchtenden Glut emporstieg und sich zwischen den Baumwipfeln verflüchtigte, schien sich auch all das aufzulösen, woran er all die Jahre geglaubt, wofür er gekämpft und gelitten hatte.
Von dem Augenblick an, da er die Komturei verlassen hatte, bei Nacht und heimlich wie ein Dieb, hatte er den Rock nicht mehr tragen wollen, hätte es nicht mehr gekonnt, ohne dabei vor Scham zu vergehen. Denn er hatte gegen alle Eide gehandelt, die er geschworen hatte, hatte seine eben erst wieder zurückgewonnene Ehre weggeworfen, um das zu tun, wozu die Stimme seines Gewissens ihm geraten hatte.
Seit zwei Tagen befanden sie sich nun auf der Flucht, der Tempelritter und das kleine Mädchen, und obwohl Kathan klar war, dass es keinen Weg zurück gab, hatte er seine Entscheidung noch keinen Augenblick bedauert. Das Mädchen war schwach gewesen, als er es befreit hatte, verletzt und krank. Hätte er noch länger gezögert, wäre es zu spät gewesen.
In einem Wald südlich von Troyes hatte Kathan eine Höhle gefunden, die ihnen als Unterkunft für die Nacht dienen würde. Lieber hätte er Obdach bei einem Bauern gesucht, aber er musste damit rechnen, dass er verfolgt wurde, und je weniger Spuren er hinterließ, desto besser war es. Außerdem wollte er niemanden in Gefahr bringen, nur weil er ihm und dem Mädchen Zuflucht gewährt hatte.
Immerhin schien die Höhle schon wiederholt Reisenden als Unterschlupf gedient zu haben; es gab eine Feuerstelle, und weiter hinten war entlang der Felswand Stroh gestreut, auf das ein erschöpfter Wanderer sein müdes Haupt betten konnte. Kathan hatte ein Feuer entfacht und das Kind in Decken und Umhänge gehüllt, damit es nicht fror. Dennoch zitterte es am ganzen Körper, das kleine Gesicht war leichenblass und das rote Haar schweißdurchnässt.
Sie hatte Fieber.
Die Misshandlung, die Entbehrung, die Angst, der kalte Kerker – all das war zu viel gewesen, ihr gepeinigter Körper verlangte Tribut. Unruhig warf sie sich auf ihrem Lager hin und her, gefangen zwischen Schlafen und Wachen, und murmelte leise vor sich hin.
»Hilfe! Hilfe …«
Kathan bedachte den Wappenrock, der zu einem Haufen Glut zerfallen war, mit einem letzten Blick, dann verließ er seinen Platz am Feuer und schlich zu ihrem Lager, setzte sich neben sie, ergriff ihre eiskalte Hand.
»Es ist gut«, sagte er, so sanft er es vermochte. »Alles wird gut.«
»Pater Edwin?« Sie sah ihn an, die dunklen Augen glasig und blicklos, schien ihn nicht zu erkennen.
»Es ist gut«, hörte Kathan sich selbst sagen, während das Bild des Mönchs vor seinen Augen auftauchte, den er mit eigener Klinge getötet hatte.
»Wo … wo sind wir?«, wollte sie wissen.
»In Sicherheit«, entgegnete er, wobei er wünschte, dass es wahr gewesen wäre.
Sie nickte und schloss die Augen, schien einen Moment lang beruhigt – um plötzlich hochzufahren und ihn anzustarren. »Wir müssen fliehen«, hauchte sie heiser, »die Wölfe kommen! Sie sind überall!«
»Ruhig«, suchte er sie zu beschwichtigen und presste sie sanft, aber bestimmt auf das Lager zurück. »Es ist alles gut.«
»Müssen fliehen«, wisperte sie weiter, während ihr Blick in weite Ferne zu schweifen schien. »Ein ferner Ort, hoch über den Wolken … eine Festung mit Mauern aus Felsgestein … ein See mit zwei Monden …«
»Ruhig«, wiederholte Kathan. Offenbar sah sie Bilder im Traum, wähnte sich an fernen Orten. Vielleicht ist es besser so, dachte er bitter, denn die Gegenwart hat ihr nichts zu bieten außer Schmerz und Tränen.
Der Klang seiner Stimme schien sie zu beruhigen, also beschloss er weiterzusprechen. »Es gibt einen Ort, an dem wir sicher sein werden«, versprach er leise, »einen Ort, der weit entfernt ist von hier. Es gibt dort grüne Hügel und steile Klippen. Und ein Meer, das so unendlich weit ist, dass es bis ans Ende der Welt reicht.«
Trotz seiner Sorge um das Mädchen huschte ein Lächeln über seine Züge. Über Jahre hinweg hatte ihn die Erinnerung an die alte Heimat mit unsäglichem Schmerz erfüllt, sodass er sie gemieden hatte. Nun jedoch hatte sie plötzlich etwas Tröstendes, versprach ihm die Zuflucht, die er und das Kind so dringend
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