Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
wieder verschwand und dann wieder auftauchte, und sie hatte die Verantwortung für ihn und musste auf ihn aufpassen. Das hatte Jenny gesagt. Jetzt passt du auf deinen kleinen Bruder auf, sagte sie stets, wenn sie die Tür aufmachte und die beiden hinaus in den Winter schickte. Draußenzeit. Dann durfte man nicht ins Haus, nicht einmal, wenn man aufs Klo musste (man ging aufs Klo, bevor man sich anzog und nach draußen ging). Es war nicht erlaubt, ins Haus zu gehen und sich etwas zu trinken zu holen (man trank ein Glas Wasser oder Saft, bevor man hinausging und – wichtig! – bevor man aufs Klo ging). Es war nicht erlaubt zu klingeln, um etwas Wichtiges zu erzählen. Draußenzeit war von 12 bis 14 Uhr. Und Siri rief nach Syver, und Syver tauchte hinter ihr auf und zog ihr die Beine weg, so dass sie beide in den Schnee plumpsten, und sie sagte, Mist, Syver, jetzt werden wir beide ganz nass, so etwas sollst du nicht machen , und sie kniete sich in den Schnee, und jetzt wird für einen kurzen Moment der Ton eingeschaltet, und die Bäume rauschten und die Vögel sangen und der Frühling war auf dem Weg, und Syver pustete ihr ins Ohr, und nasser Schnee lief in die Ritze zwischen ihrem Schal und dem Halsbündchen und weiter kalt den Rücken hinunter, und Syver begann zu weinen und schlang die Pulloverärmel um ihren Hals und sagte, sei nicht böse, Siri . Und dann standen beide auf, und sie sagte, ich bin nicht böse , aber jetzt müsse er bei ihr bleiben, sie habe das Sagen, sie sei die Ältere, und eigentlich dürften sie gar nicht so weit weggehen, wie sie es getan hatten, aber der Hof vorm Haus, in dem sie sich während der Draußenzeit aufhalten sollten, hatte seine Grenzen. Und Siri erinnerte sich, dass die Zeit das größte Problem gewesen war, denn sie wusste nie, wann es zwei Uhr und die Draußenzeit zu Ende war. Wann waren zwei Stunden vorbei? Einmal kam sie mit Syver im Schlepptau aus dem Wald und pochte mehrmals an die Tür, denn sie waren eine Ewigkeit draußen gewesen, und Jenny machte die Tür auf, riss sie auf, mit einem Handtuch um den Kopf und sagte, was habe ich gesagt, warum du während der Draußenzeit nicht an die Tür kommen sollst ? Dazu hatte Jenny sehr viel gesagt. Unter anderem, wie wichtig es für Kinder war, jeden Tag an die frische Luft zu kommen. Und wie wichtig es war, Jenny nicht bei der Arbeit zu stören. Und Jenny starrte Syver und Siri an (er hatte sich hinter ihrem Rücken versteckt und lugte kichernd dahinter hervor, und Jenny musste fast, aber nur fast lachen) und sagte, zwanzig Minuten, Siri! Ihr seid erst seit zwanzig Minuten draußen! Es ist zwanzig nach zwölf. Ich will, dass ihr um zwei zurückkommt. Mein Gott, das ist erst in einer Stunde und vierzig Minuten! Nicht früher , sagte Jenny, nicht später.
Und das Komische war, das denkt Siri heute, und das dachte sie auch damals schon mit ihren sechs, fast sieben Jahren, dass es Jenny nicht in den Sinn kam, dass sie die Uhr noch nicht kannte. Tja, tja, w ie lange es wohl noch dauert, bis wir umkehren müssen , sagte sie zu Syver, der noch nicht alt genug war, um überhaupt das Problem zu verstehen.
Siri war alt genug, um das Problem zu verstehen, sie wusste nur nicht, wie sie es lösen sollte. Aber im Großen und Ganzen ging es gut. Man lernt die innere Uhr, bevor man die äußere lernt. Siri wusste immer, wann ungefähr sie umkehren und nach Hause gehen mussten, damit sie im Hof waren, wenn Jenny die Tür aufmachte und sagte, kommt herein, ihr zwei, auf dem Küchentisch stehen Saft und Brote . Und ungefähr jetzt war es an der Zeit, kehrtzumachen, aber Syver war erneut verschwunden. Sie rief nach ihm. Aber er war verschwunden. Syver war nirgendwo.
Und jetzt war der Wald wieder ganz still, und Siri wusste es schon, bevor sie ganz sicher sein konnte, dass Syver tot war.
J ennys siebenundsiebzigster Geburtstag rückte näher. Irma hatte Siri, die noch einmal versuchen wollte, den Geburtstag ihrer Mutter zu feiern, eine kleine Geburtstagsfeier im Garten erlaubt. Aus Rücksicht auf Liv und Alma, sagte Irma. Keine weiteren Gäste. Nur Jon und du und die Kinder.
Liv hatte ein Bild von einem Haus und einem Garten und einem Baum und einem blauen Himmel und einer Sonne gemalt, und auf das Bild hatte sie geschrieben: HO HO HO! FÜR OMA VON LIV . Alma hatte Parfüm gekauft, L’Air du Temps, Jennys Lieblingsparfüm. Alma und Siri waren zusammen in ein Einkaufszentrum vor den Toren Oslos gefahren, um sich eine schöne Zeit zu machen
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