Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Bedacht wählen, und es gab noch genügend Schlachten zu schlagen. Sie bestand darauf, vom Restaurant aus zu Fuß nach Mailund zu gehen, den langen Berg hinauf, obwohl Alma protestierte. Es war ein schöner Tag, ein strahlender Tag, auch wenn es windig war, und Jon und Siri, Alma und Liv würden eine feierliche Prozession bilden, wenn sie mit Körben voller Essen ankamen.
»Kommt jetzt, wir gehen los!«
Als sie bei ihrer Ankunft das Tor hinter sich schlossen, wurden sie von Irma erwartet. Sie könnten sich schon mal im Gras niederlassen, sagte sie, dann würde sie Jenny die Treppe heruntertragen und sie in den Rollstuhl setzen, der unter dem großen Ahornbaum bereitstand. Jon fragte, ob er ihr behilflich sein könne, aber Irma knurrte nur, wenn Jenny von einem Ort zu einem anderen bewegt werden müsse, dann würde sie selbst dafür sorgen. Siri holte eine Decke aus dem Wohnzimmer und breitete sie im Gras aus.
Als Jenny, klein und zerbrechlich wie eine Vogelbrust, endlich im Rollstuhl saß, stellte sich Irma ein Stück weg an die Hauswand. Sie wollte weder Kaffee noch Brötchen, Croissants, Scones oder Kuchen haben, obwohl Siri eine richtige Geburtstagstorte gebacken hatte, mit Vanillecreme und frischen Beeren, die im Handumdrehen mit sieben Kerzen verziert war, da der Platz für siebzig nicht reichte.
Jon saß auf der Decke in der Sonne und musste ständig an den Zwischenfall mit Alma denken. Er sah sie an. Sie war immer noch klein und ziemlich pummelig, aber die schwarzgeschminkten glänzenden Augen, der große rote Mund und die tiefschwarzen kurzen Haare gehörten einem Mädchen, das er nicht kannte, nicht erreichte. Nicht erreichen konnte. Es war nicht so, dass er es nicht probierte, dass er nicht wollte. Er schaute bei Alma nicht weg, er sah sie direkt an, aber er verstand sie nicht. Auch Siri verstand sie nicht. Aber Jon gab nicht auf. Er versuchte zu verstehen, doch es war wie im Traum, wie in seinem Albtraum, in dem er wieder ein Kind war und vor der Klasse stand und die Rechenaufgabe, die er lösen sollte, vollkommen unbegreiflich fand, sie setzte sich aus Zeichen zusammen, die er noch nie gesehen hatte. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Nicht aufgeben. Aber wo hatte er sich für den falschen Weg entschieden? Wo hatten er und Siri sich für den falschen Weg entschieden? Mit Liv war es ganz anders. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass es schwierig sein könnte, Liv zu lieben. Schwierig sein könnte, sie zu erreichen. Aber Alma war unbegreiflich. Ein anderer Buchstabe.
»Jetzt essen wir«, sagte Siri und packte die Körbe aus.
Sie sah zu Irma, die an der Hauswand lehnte.
»Bist du sicher, dass du keinen Kuchen haben willst?«
Irma zündete sich eine Zigarette an und schüttelte den Kopf.
»Dann werde ich für Mama einen leckeren Teller zusammenstellen«, sagte Siri und hörte selbst, wie falsch ihre Stimme klang.
»Das wirst du nicht«, sagte Irma von ihrem Standort an der Hauswand aus. »Jennys Magen ist sehr empfindlich. Jenny soll keinen Kuchen essen. Jenny hat schon gegessen.«
Siri lächelte und nickte Irma zu.
»Ein wohlschmeckendes Omelett, nehme ich an?«
Irma gab keine Antwort.
Liv stand auf und erinnerte alle daran, dass sie vor dem Essen ein Geburtstagslied singen müssten, also standen Jon und Alma und Siri von der Decke auf.
»Du auch, Irma«, sagte Liv.
Irma wirkte etwas überrumpelt, drückte aber ihre Zigarette aus, kam herüber und stellte sich neben Liv.
Und alle zusammen sangen sie:
Heute kann es regnen,
stürmen oder schneien,
denn Du strahlst ja selber
wie der Sonnenschein.
Heut ist Dein Geburtstag,
darum feiern wir,
alle Deine Freunde freuen sich mit Dir.
Liv klatschte in die Hände. Jetzt durften sie sich setzen. Auch Irma. Hier neben sie. So! Liv betrachtete all das leckere Essen, das Mama aufgetischt hatte, nahm sich ein Croissant und tunkte es in den Honig. Keiner liebte Honig so wie Liv. Doch als sie gerade abbeißen wollte, hielt sie plötzlich in der Bewegung inne und betrachtete das Croissant.
»Was ist, Liv?«, fragte Jon.
Sie sah auf.
»Findet ihr nicht auch, dass das Croissant wie ein Krebs aussieht?«
Sie legte das Croissant mitten auf die Decke, damit alle es sehen konnten.
»Oma, findest du nicht, dass das Croissant wie ein Krebs aussieht?«
Jenny, die anlässlich der Feier einen hellblauen Frotteebademantel mit Eierflecken trug, saß zusammengesunken im Rollstuhl unter dem Ahornbaum und döste vor sich hin.
Alma legte einen Arm um ihre
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